Engel sterben
ihre Blicke über die Gäste an den Stehtischen vor den Bars wandern, deren heitere, laute und oft auch überhebliche Rufe durch Kampens Amüsiermeile tönen.
Der Klang des Geldes, denkt Mona zufrieden. Das sind die Menschen, die auch mir ein Leben in Wohlstand ermöglichen. Und damit dies auch so bleibt, beschleunigt sie jetzt ihre Schritte. Es ist ihr immer noch nicht gelungen, Markus Rother an den Apparat zu bekommen. Und auf ihre SMS hat er auch nicht geantwortet. Doch vielleicht gibt es dafür eine Erklärung.
Viele Menschen, die eine Immobilie veräußern möchten, an der ihr Herz hängt oder einmal gehangen hat, zögern im letzten Moment. Sie können sich nicht trennen, im ganz und gar wörtlichen Sinn. Und genau so wird es Markus Rother im Augenblick gehen. Mona kann sich nur allzu deutlich vorstellen, wie er immer wieder durch die Räume des geerbten Hauses streift, wie er versucht, alle Erinnerungen einzufangen, die an den Möbeln, in den Zimmerecken und zwischen den Spielsachen in der oberen Etage hängen. Erinnerungen, die dort vielleicht seit Jahrzehnten nur auf ihn gewartet haben.
Noch ist er der Einzige, der den Schlüssel zu der Wattvilla hat, noch ist er allein mit seinen Erinnerungen. Wenn er allerdings auf Monas SMS reagieren oder einen ihrer zahlreichen Anrufe entgegennehmen wird, dann wird es mit seiner luxuriösen Einsamkeit vorbei sein.
Mona zweifelt nicht daran, dass Rother wirklich die Absicht hat, sein Haus zu verkaufen. Sie zweifelt nur daran, dass er die Kraft aufbringen wird, den zweiten, entscheidenden Schritt zu tun. Er muss sich trennen. Er muss ihr, der von ihm beauftragten Maklerin, den Zweitschlüssel geben. Er muss einfach nur von seinem Hoheitsanspruch ablassen.
Und genau dabei wird Mona ihm helfen.
Denn plötzlich glaubt sie zu wissen, wo Rother sich aufhält und warum er nicht an sein Handy geht. Sie sieht ihn fast vor sich, wie er allein und aufgewühlt durch das leere Haus streift, das ihm einmal viel bedeutet hat.
Mona weiß, es ist nicht weit bis zu der Villa am Watt. Einmal quer durch Kampen und dann ein Stück in die Heide hinein. Man befindet sich hier schließlich an einer der schmalsten Stellen der Insel, gerade das macht den Reiz dieses Ortes aus. Der Fußweg von der Nordsee bis hinüber zum Watt ist in einer guten halben Stunde zu bewältigen.
Schnell lässt die Maklerin die Nobelläden und damit auch die Flaneure hinter sich. Die Sonne steht tief in Monas Rücken, so dass sich ihr Schatten bis in die Unendlichkeit zu dehnen scheint. Und dann ist er plötzlich weg, alles, was rot war, wird blaugrau. Die Sonne ist hinter den Dünen versunken.
Es geht seit Tagen kein Wind, was ungewöhnlich für die Insel ist, und die Feuchtigkeit des nahen Meeres legt sich wie ein warmer Wickel auf Monas Gesicht. Mona zieht tief die Luft ein, sie riecht salzig und muffig zugleich.
Seitlich des Weges werden die Abstände zwischen den Häusern größer und die Grundstücke ebenfalls. Es ist vollkommen ruhig auf der Straße. Keine Autos, keine Stimmen. Unter der Woche bleiben etliche Ferienhäuser unbewohnt. Wer sich an Sylts teurer Wattseite eines der alten Friesenhäuser oder auch eine neugebaute Villa als Zweitdomizil leisten kann, hat selten Zeit, auf der Insel zu sein, aber er hat es deshalb noch lange nicht nötig, die Immobilie an Badegäste zu vermieten.
Je näher man dem Watt kommt, umso weniger Ferienhäuser sind zu sehen. Exklusivität kann man hier an der Zahl der unbebauten Quadratmeter abmessen, die die Häuser umgeben. Und man muss sie bezahlen können. Keines dieser Objekte würde für weniger als drei Millionen über den Tisch gehen. Einige brächten es vermutlich locker auf sechs bis acht. Vor allem diejenigen, die mit einer beeindruckenden Fernsicht aufwarten können. An klaren Tagen kann man hinter Heide, Watt und Meer bis zum Festland schauen. Und an den weniger klaren Tagen hat man immer noch die vielfältigen Blau- und Grüntöne der krautigen Gewächse im Blick, die das unter Naturschutz stehende Gebiet überziehen. Farben, die die Augen beruhigen, und Düfte, die sich wie Balsam auf angespannte Nerven legen. Farben und Düfte, in die jetzt auch Mona eintaucht, als sie die Abkürzung über den Sandweg nimmt, der sich quer durch die Heide bis zum Fuß des Hügels windet, auf dem die Wattvilla steht.
Auf dem Weg kommt Mona eine gebückte Gestalt entgegen. Beim Näherkommen grüßt die alte Frau nuschelnd.
»Moin, Moin.«
»Guten Abend.«
Die Alte nickt
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