Engel sterben
das heilige Reich ihrer Schwestern betreten. Ein Sakrileg, ein Verstoß gegen alle Regeln, die sie je im Umgang mit dem Watthaus aufgestellt hat. Jemand musste die schlafenden Schwestern in der oberen Etage aufgestört haben.
Das macht Karoline Angst.
Vielleicht hängt die Angst aber auch mit den Nachrichten über das verschwundene Kind zusammen. Immer wieder sieht sie es vor sich. Es trägt das Gesicht eines der Mädchen auf dem Kaminfoto. Nur sind jetzt die Kinderaugen in ungläubigem Entsetzen aufgerissen, und der hübsche kleine Mund ruft inständig nach Hilfe. Aber Karoline kann nicht helfen.
Ann-Kathrin heißt das verschwundene Mädchen, auch das war aus den Nachrichten zu erfahren. Immerhin hat Karoline jetzt einen Namen für die erste der drei Schwestern, ein Wissen, das sie mit einem ungekannten Glücksschauer erfüllt, ein Wissen, das ihr heilig ist. Fast so heilig wie der Schutz der oberen Etage des Watthauses, der Schutz der Privatsphäre ihrer kleinen geheimen Familie.
Donnerstag, 23. Juli, 11.50 Uhr,
Zöllner-Immobilien,
Kampen
Nachdenklich blickt Mona Hofacker Björn Steingart hinterher. Er hat seinen offenen BMW direkt vor der Fensterfront des Immobilienbüros in zweiter Reihe geparkt und betätigt gerade lässig mit der Hand in der Hosentasche die Fernbedienung zum Öffnen der Türen. Bevor er einsteigt, wechselt er ein paar Worte mit einem kleinen Jungen, der bewundernd vor dem Wagen steht. Mit einer fürsorglichen Geste streicht Steingart dem Kind über den Kopf, schwingt sich auf den Fahrersitz und legt einen Kavaliersstart hin.
Während der BMW aus ihrem Blickfeld in Richtung Strand verschwindet, macht sich Mona ein paar Notizen zu dem Gespräch, das sie eben geführt hat.
Steingart scheint gewillt, ein mittleres Vermögen in eine Immobilie zu investieren, am besten in ein einzelnstehendes Haus am Watt. Als Orte kamen Kampen, Braderup oder Keitum in Frage. Allerdings haben ihn die Objekte, die Mona aus dem Stegreif präsentieren konnte, nicht recht überzeugt. Sie waren ihm allesamt nicht repräsentativ genug. Aber gegen Ende des Gesprächs hat sich ein verlockender Ausweg aus der Misere abgezeichnet. Denn alles, was Björn Steingart sich wünscht, passt haargenau auf Markus Rothers erinnerungs- und sandgesättigtes Haus am Watt. Nur dass Mona noch nicht über dessen Schlüssel verfügt. Trotzdem hat sie dem anspruchsvollen Steingart vorsichtig winzige Appetithäppchen von diesem zu erwartenden Brocken hingeworfen. Und er hat sie brav geschluckt, ist davon sogar richtig hungrig geworden. Mit Leichtigkeit hätte Mona ihn zu einer spontanen Außenbesichtigung animieren können, schließlich ist sie in der Branche berühmt dafür, dass sie Gelegenheiten zu ergreifen und zu nutzen weiß. Man hat ihr die Leitung der hiesigen Filiale ja nicht umsonst übertragen. Mona und ihre zwei Mitarbeiter erwirtschaften auf der Insel ein Drittel des Gesamtumsatzes der bundesweit aktiven Maklerfirma.
Doch etwas, über dessen Ursachen sich Mona nicht im Klaren ist, hat sie diesmal davon abgehalten, ihrer spontanen Eingebung zu gehorchen. Steingart wird sich jetzt noch ein bis zwei Tage gedulden und auf ihren Rückruf warten müssen.
Und vorher braucht Mona den Schlüssel zu der Wattvilla ebenso dringend wie deren Inneres eine ordentliche Generalüberholung nötig hat. Energisch greift die Maklerin zum Telefon. Die Visitenkarte Markus Rothers mit seiner handschriftlich hinzugefügten Handynummer liegt ganz oben auf ihrem Notizstapel. Und als das Freizeichen ertönt, heißt es nur noch warten.
Mona lässt Markus Rothers Handy zwei geschlagene Minuten lang klingeln, doch nichts geschieht. Entweder der Eigentümer des Watthauses hat sein Handy nicht bei sich, oder er ist sehr beschäftigt. Zur Sicherheit wählt Mona die Nummer noch einmal, doch das Ergebnis ist das gleiche. Markus Rother ist im Moment für Mona Hofacker nicht zu sprechen.
Donnerstag, 23. Juli, 15.20 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
»Kriminalpolizei Sylt, Silja Blanck.«
Aufmerksam beobachtet Sven vom Nebenschreibtisch aus das Mienenspiel seiner Kollegin. Obwohl das Verschwinden der kleinen Ann-Kathrin jetzt fast vierundzwanzig Stunden zurückliegt, haben ihre Ermittlungen noch nichts ergeben. Keine Spuren, keine Verdächtigen. Aber wenigstens auch keinen Leichenfund.
Jetzt formen Siljas Lippen unhörbar die beiden Worte, vor denen sich die Kommissare im Moment am meisten fürchten. »Die Eltern.« Sven atmet tief durch und signalisiert
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