Engel sterben
musst du ihm oder seinen Kollegen das alles noch einmal erzählen.«
»Ich will aber nicht!«
Der Kinderkörper in Anjas Armen wird steif.
»Warum nicht? Du kennst sie doch alle. Oder fast alle jedenfalls, es gibt wohl Verstärkung vom Festland.«
»Trotzdem. Ich will nicht.«
»Warum denn nicht? Wovor hast du Angst? Dieser böse Mann wird dir nichts tun. Wir lassen dich nicht mehr allein und passen ganz genau auf dich auf, das verspreche ich dir.«
»Ich hab doch keine Angst vor dem blöden Mann, Mama. Nur vor Papa und den anderen.«
»Was?«
»Na, die werden doch mit mir schimpfen. Wegen der Steine. Man darf doch keine Steine auf die ganzen teuren Autos werfen.«
»Ach, Mette. Mach dir darum mal keine Sorgen. Du hast es ja nicht böse gemeint.«
Anja streichelt ihrer Tochter übers Haar. Sie möchte am liebsten die ganze Nacht so sitzen bleiben. Ganz dicht neben ihrem einzigen Kind und es fest im Arm halten.
Langsam beginnt Mette, sich zu entspannen.
»Komm, meine Süße, wir müssen los.«
Samstag, 25. Juli, 20.05 Uhr,
Wattvilla, Kampen
Mona sieht auf ihre Uhr. Fünf nach acht. Seit gut vier Stunden sitzt sie in diesem Keller fest. Natürlich hat sie gleich nach dem ersten Schreck ihr Handy aus der Tasche gezogen. Aber es kam keine Verbindung zustande. Entweder es herrscht hier am Watt ein ebensolches Funkloch, wie es das an etlichen Strandabschnitten auf der Insel gibt, oder das Mauerwerk dieses Kellers ist zu dick. Zwanzig Minuten lang hat Mona verzweifelt versucht, einen Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Nichts.
Seitdem kauert sie auf dem Bett gleich neben der Tür. Mona traut sich nicht vom Fleck. Nur ihre Augen wandern immer wieder durch den Raum. Langsam. Aufmerksam. Und gleichzeitig ungläubig. Das alles kann einfach nicht wahr sein. Sie muss träumen. Aber sie träumt nicht.
Unter dem harten Licht der Neonröhren liegt ein rechteckiger Raum mit Betonwänden und einer niedrigen Decke. Der Fußboden ist aus Estrich. Weder der Boden noch die Wände sind gestrichen. An den beiden Längswänden stehen je zwei Betten aus einfachem Metall. Auf allen liegen Kissen und Decken. Die Bezüge sind gelbkariert, und ihr frischer Duft nach irgendeinem Weichspüler erfüllt den Raum. Die Betten scheinen unbenutzt, das Bettzeug liegt ordentlich auf den reinweißen Laken. Jedenfalls gilt das für die drei Betten, die Mona im Auge hat, weil sie nicht selbst darauf sitzt. In dem Bett, auf dem Mona sitzt, hat sehr wohl jemand geschlafen. Das Bettzeug hat Knicke und Falten, und außerdem liegt am Fußende ein Herrenpyjama. Er ist dezent gestreift und von einer teuren Firma. Das Markenzeichen im Innenkragen befindet sich direkt neben Monas Hüfte.
Mona ekelt sich vor dem Schlafanzug, sie ekelt sich vor dem ganzen Bett, aber sie schafft es trotzdem nicht aufzustehen. Ihr ist, als befände sie sich auf vermintem Gelände. Jeder Schritt kann eine Explosion auslösen.
Eine Erkenntnisexplosion.
Es reicht schon, was sie sehen muss, ohne aufzustehen. Zum Beispiel die Käthe-Kruse-Puppen auf den Mädchenbetten. Sie sitzen auf den Kopfkissen und bohren mit ihren Glasaugen Löcher in die Luft. Ihre blonden Haare sind unordentlich, als seien sie in einen Sturm geraten. Und sie sind nackt. Alle drei. Verschwunden sind die Kittelkleider, die die beiden kleineren Puppen bei Monas erster Besichtigung der Wattvilla noch getragen haben. Was ist mit ihnen geschehen? Wer hat sie ihnen ausgezogen? Und was heißt das für die zwei entführten Mädchen? Mona möchte die Puppen hochnehmen, sie möchte sie schütteln und anschreien. Was wisst ihr? Wer hat euch die Kleider weggenommen? Waren die Mädchen bei euch? Doch sie berührt die Puppen nicht. Und diese glotzen sie schweigend an, als seien sie sich der anklagenden Obszönität ihrer nackten Köper nur allzu bewusst.
Und dann sind da noch die Hausschuhe. Drei Paar lackrote Pantoffeln mit tiefen Rissen auf dem Deckleder. Fünf dieser Schuhe hat Mona bei ihrem ersten Rundgang durch die obere Etage in dem Mädchenbad gesehen. Später waren sie verschwunden. Mona hat geglaubt, Lidia habe die Pantoffeln entsorgt. In Wirklichkeit muss jemand sie hier hinunter in den Keller getragen haben.
Jemand?
Es kann doch nur Markus Rother, der Besitzer des Watthauses, gewesen sein. Aber war er es auch, der Mona hier eingesperrt hat? Wäre er wirklich so dumm, seine Villa einer Maklerin anzubieten, wenn er sie gleichzeitig als Versteck nutzen will? Wohl kaum. Bleibt Björn Steingart. War
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