Engel sterben
vielleicht sein Interesse an einem schnellen Immobilien-Deal nur vorgeschützt? Ging es ihm um ein Versteck für die Mädchen? Ist er die Bestie, die alle suchen? War seine Frage nach dem Keller am Vormittag auch nur ein Vorwand, um sie einzusperren? Hat er ihr hier aufgelauert? Dann müsste er schon vor der gemeinsamen Besichtigung das Haus und den Keller gekannt haben. Dann müsste er das Maklerbüro mit der eindeutigen Absicht aufgesucht haben, ein geeignetes leerstehendes Haus zu finden, um die entführten Mädchen zu verstecken. Oder ihre Leichen.
Jetzt springt Mona doch auf. Laut schreiend läuft sie auf die verdammte Stahltür zu und hämmert mit beiden Fäusten dagegen.
»Aufmachen! Aufmachen, aufmachen, aufmachen!«
Monas Fäuste werden rot und schwellen an. Die Handknochen beginnen zu schmerzen. Mona lässt das Hämmern und horcht in die Stille. Nichts, absolut nichts. Kein Ton, noch nicht einmal das Krächzen der Möwen ist hier unten zu hören. Mona sackt zu Füßen der Tür zusammen. Wie ein kleines Kind kauert sie auf dem Boden und schlägt die Hände vor das Gesicht.
Samstag, 25. Juli, 20.06 Uhr,
Möwengrund, List
Die drei Mädchenköpfe von den Fotos auf der Mattscheibe nicken grinsend zu Fred hinunter. »Such uns doch«, scheinen die Mädchen zu rufen, hämisch und viel zu laut. »Such uns doch, du neunmalkluger Schreiberling!«
Sprachlos starrt Fred zu den Fotos hinauf. Er liegt auf dem Boden vor seinem Bett und hält die fast leere Flasche mit der linken Hand fest umklammert, während die Nachrichtensprecherin von den neuesten Polizeiaktivitäten berichtet. Trotz intensiver Suche und eines auf der Insel noch nie dagewesenen Großeinsatzes der Polizei fehle von allen drei Mädchen jede Spur.
Eine Leiche haben sie also noch nicht gefunden, überlegt Fred. Trotz der Spürhunde in der Dünenkuhle. Das kann nur heißen, dass die Leiche woanders liegt. So wie die Kleidung der anderen beiden Mädchen auch. Und die restlichen Leichen. Denn hier glaubt doch wohl niemand, dass die Mädels noch leben. Vermutlich hat der Mörder alles am selben Ort versteckt. Die Sache mit der Dünenkuhle wird nur ein Ausrutscher gewesen sein. Vielleicht ist dieser perverse Typ gestört worden und hat sich längst ein ruhigeres Plätzchen gesucht.
Fragt sich nur, wo dieses ruhige Plätzchen liegen könnte.
Also Fred, streng dich an. Wozu kennst du diese Insel wie deine Westentasche?
Was für ein peinlicher Vergleich, schießt es ihm durch den Kopf. Das Bild ist derartig abgegriffen, es muss direkt aus einem ziemlich muffigen Fotoalbum der fünfziger Jahre gefallen sein. Westentasche! So etwas darf einem guten Journalisten noch nicht einmal im Vollrausch passieren. Aber »muffiges Fotoalbum der Fünfziger« ist schon wieder gut. Wie wären die Alben der Sechziger zu charakterisieren? Klebrig vielleicht. Und die der Siebziger? Poppig, keine Frage.
Sprachspiele, was für eine lächerliche Lieblingsbeschäftigung aus besseren Tagen. Fred reißt sich zusammen, denn jetzt geht es um mehr, gilt es doch, einen geheimen Ort zu finden und schlauer als die Polizei zu sein.
Er schließt die Augen und versucht, sich zu konzentrieren. Gar nicht so einfach, mit diesen Sturzbächen von Alkohol im Blut. Gesucht wird ein einzigartiger Ort. Ein blutiger Ort. Ein Platz zum Sterben und Vergrabenwerden.
Mühsam richtet sich Fred an der Bettkante auf, bis er schließlich schwankend zum Stehen kommt. An der Wand hinter dem Bett stehen deckenhoch gestapelt Umzugskisten, die seine gesamte Vergangenheit enthalten. Oder das, was davon übrig ist. Irgendwo in diesem Chaos muss ein alter Plan der Insel sein. Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht mehr, jedenfalls nicht in diesem Haushalt, überlegt Fred, wenn man denn das hochtrabende Wort »Haushalt« für seine Bruchbude überhaupt gebrauchen will. Denn es gibt einen Grund für den merkwürdigen Standort der Kisten. Die Wand war von Anfang an feucht, und Fred fand, dass die Kisten eine akzeptable Isolierung gegen Kälte und Nässe sein könnten.
Als er die erste Kiste vom Stapel gewuchtet hat und sich darüberbeugt, wird ihm schwindlig. Aber das liegt vermutlich weniger an dem Alkohol in seinem Blut als an dem durchdringenden Schimmelgeruch, den der Inhalt der Kiste ausströmt. Die Taschenbücher darin sind durchweg unbrauchbar. Aufgequollen und mit weißlichen Pilzen überzogen, bieten sie nicht gerade einen appetitlichen Anblick.
In der zweiten Kiste sieht es etwas besser
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