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Engel sterben

Engel sterben

Titel: Engel sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Ehley
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Strand und bleiben lange dort. Erst am frühen Abend kehren sie heim in ihre Villen und Apartments.
    Vieh, das von der Weide zurück in den Stall getrieben wird.
    Anja muss an die Schweine denken. Hans Iversens Schweine.
    Als sie ein Kind war, bekam der Fleischer sein Schlachtvieh noch lebend geliefert. Die Transporter waren so lang, dass die Fahrerkabine immer vor Anjas Elternhaus stand, wenn hinten die Schweine für Iversen abgeladen wurden. Die Tiere quiekten verängstigt, als spürten sie, was sie erwartete. Und manche schafften es sogar, auf dem kurzen Weg vom Laster zur Schlachtbank zu entkommen. Dann verfolgte der krummbeinige Fleischer die galoppierenden Tiere durch die ganze Straße und schwenkte dabei seine Bolzenpistole. Anja war überzeugt davon, dass er die Schweine direkt auf der Straße erlegen würde, und rannte schreiend zurück ins Elternhaus. Nie hat sie gesehen, was mit den Tieren wirklich geschehen ist.
    Später wurden nur noch halbierte Kadaver in großen Kühlwagen geliefert. Aber die Kampener Kinder hatten es sich längst zur Gewohnheit gemacht, Fleischer Iversen zu hänseln. Sie rotteten sich nach der Schule zusammen und riefen Spottverse über die Straße. Anja hat die Reime vergessen, aber sie erinnert sich genau an die Wut des Schlachters und an die ausholenden Gesten, mit denen er sein langes blankes Messer in der Luft schwenkte, wenn er aus dem Laden stürmte, um sie zu verfolgen. Seine Worte waren immer die gleichen.
    »Wenn eck euch kriech, säbel eck euch die Ohrn ab!«
    Anja verscheucht die Erinnerung. Was bleibt, ist Panik. Eine Angst, die von Sekunde zu Sekunde größer wird. Was will sie hier? Wer ist sie schon? Eine kopflose Mutter auf der Suche nach ihrem einzigen Kind. Ruckartige Bewegungen. In jede Richtung läuft Anja ein paar Schritte, bis ihr die Suche in der Gegenrichtung aussichtsreicher zu sein scheint. Und über allem diese Sonne. Feuerball hinter Reetdachhäusern. Verzweifelte Mutter zwischen sorglosen Urlaubern. Anja fällt aus dem Rahmen, der gehetzte Blick, das schnelle Atmen. Neugierige Augen streifen sie, kurz nur, dann siegt die Anziehungskraft der Schaufensterauslagen.
    Es gibt eine Ausnahme.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    Sie fährt herum. Der Mann ist mittelgroß und muskulös, er wirkt fast schon gedrungen, trägt ein Streifenhemd mit Manschettenknöpfen und eine goldene Rolex. Das Designer-Käppi auf seinem runden Schädel will nicht ganz zu der noblen Aufmachung passen – ebenso wenig wie das Flackern in seinem Blick, das er aus Anjas Augen gestohlen haben muss.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, wiederholt er. »Suchen Sie etwas?«
    Was soll sie antworten?
    »Ich suche meine Tochter. So groß etwa.« Anja hält die Hand in Hüfthöhe. »Und blond. Blonde Zöpfe. Sie trug ein blaues Kittelkleid.«
    Was sagt sie da?
    »Entschuldigen Sie, ich bin ganz durcheinander … nicht trug … trägt … Mette trägt ein blaues Kittelkleid. Mit kleinen weißen Katzenköpfen darauf. Die Barthaare sind schwarz und zu lang für eine Katze.«
    Er muss sie für verrückt halten. Warum dreht er sich nicht um und lässt sie mit ihrer Angst allein, dieser Spanner in der Verkleidung eines Badegastes?
    »Wie alt ist das Mädchen, sagten Sie?«
    »Sie ist vor zwei Monaten sechs geworden. Aber Mette ist eher klein für ihr Alter. Ich kann sie nicht finden, und ich habe Angst wegen …«
    Anja verstummt. Ist sie denn von allen guten Geistern verlassen? Kein Kampener erwähnt die Vorkommnisse in List und Hörnum den hiesigen Gästen gegenüber. Nur keine Panik aufkommen lassen. Aber Mette! Jede Minute kann das Leben ihrer Tochter kosten. Niemand auf der Insel glaubt daran, dass die beiden Mädchen wohlbehalten wiederauftauchen werden. Die kleine Paula hatte die gleiche Zopffrisur wie Mette.
    »Sechs Jahre alt, sagten Sie?«
    Das Gesicht des Badegastes gefällt Anja nicht. Ein Männergesicht wie aus der Puddingwerbung. Faltenlos. Es wirkt ebenso unecht wie ein Würstchen im Kunstdarm. Trotzdem können Anjas Augen sich nicht von diesem Gesicht lösen.
    »Ich will nicht zu viel versprechen, aber es ist möglich …«
    Schweigen.
    Kunstpause, denkt Anja. Wie ein Freier beim Verhandeln mit einer Hure. Woher weiß sie das? Aber es stimmt. Er will den Preis senken. Anja sieht das Lächeln in seinem Gesicht. Er will keinen Preis senken, korrigiert sie sich, er will meine Angst sehen. Und das umsonst.
    »Kommen Sie mit, ich führe Sie hin. Es war genau neben dem
Gogärtchen
. Das Mädchen

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