Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Strafrechtliche Relevanz hatte keiner der ersten zwanzig Filme, die er sich ansah. Jugendliche beim Kickboxen unter Brücken und auf verlassenen Parkplätzen, bei halsbrecherischen Fahrten in Einkaufswagen, beim Zünden selbst gebastelter Knallkörper in Dopplerflaschen und so weiter. Er öffnete die Datei killertramps – hinter diesem Namen hatte Leitner bestimmt die filmische Darstellung eines Gewaltverbrechens vermutet, wahrscheinlich den Messerangriff auf den Obdachlosen am Gürtel mitsamt eindeutig erkennbarer Tätervisage. Nun, es war ein Skateboardvideo, das eine Gruppe von Minderjährigen zeigte, die sich auf dem Treppelweg neben dem Donaukanal – Bergmann glaubte, die Friedensbrücke zu erkennen – ihren Stunts hingaben und dabei regelmäßig an die Tür der Notaufnahme klopften. Und?, fragte sich Bergmann, todesmutige Stadtstreicher, das hatten die Burschen mit dem Titel wohl gemeint, warum soll ich mir das anschauen? Da schwenkte die Handykamera für einen Augenblick nach links zu den Sitzbänken. Dort saß Schäfer. Mit einem Schlag auf die Leertaste hielt Bergmann das Video an, scrollte zurück zum Anfang und ließ den Film langsam ablaufen. Insgesamt sechs Mal kam Schäfer während der zwölf Minuten Laufzeit ins Bild, saß in gleich bleibender Position auf der graffitiverzierten Bank, aufrecht, die Hände auf den Oberschenkeln und starrte in Richtung Kanal. Was ist denn mit dem los?, hatte sich wahrscheinlich das junge Paar gefragt, das bei Minute drei an ihm vorübergegangen war. Ja, was war an diesem Abend des 28. Mai los mit Major Schäfer, dass er einsam und wie in Trance auf dieser Bank saß?
Bergmann kopierte die Datei auf den Server, ging zurück in sein Büro und öffnete das Video erneut; als ob ihm hier, auf seinem angestammten Platz, mehr dazu einfallen könnte. Wenigstens gab es nun einen Beleg dafür, dass Schäfer zu diesem Zeitpunkt noch in Wien, noch am Leben war. Moment, am Leben … von wann war das Bild, das der Privatdetektiv ihm gegeben hatte? Bergmann öffnete die Schranktür und sah auf sein Chart, das immer mehr einem abstrakten Gemälde zu ähneln begann. 30. Mai, das war das Datum, an dem sich Schäfers Spuren auf einer Autobahntankstelle an der Inntalautobahn verloren. Und zwei Tage zuvor sitzt er weggetreten am Donaukanal und sieht Jugendlichen beim Skateboarden zu? Bergmann ergänzte sein Chart und stellte sich ans Fenster. Immer noch schwerer Regen. Ein paar wenige Autos pflügten die überschwemmte Ringstraße – hauptsächlich SUVs , deren Besitzer nun endlich die fantastischen Eigenschaften ihrer Fahrzeuge beweisen konnten. Einer von ihnen würde den Abend nicht erleben; würde gegen fünfzehn Uhr in Klosterneuburg eine gesperrte Brücke befahren, stecken bleiben und ertrinken. Irgendwas übersehe ich, sprach Bergmann in den leeren Raum.
43.
Ränklin hatte er gesagt. Beat Ränklin. Und sein Sohn: Wilhelm? Der musste ihn verwechselt haben. Wieso hätte er einem Schweizer seinen toten Sohn zurückbringen sollen. Überdosis. War er vielleicht Arzt? Nein, Jakob hatte damals Medizin studiert – und seinem Ehrgeiz nach zu schließen, war er jetzt vermutlich schon Primar. Sahen sich er und sein Bruder inzwischen so ähnlich, dass dieser Ränklin sie verwechselt hatte? Möglich. Aber das waren Hunderte andere Varianten auch. Er biss sich auf die Zunge und kniff die Augen zusammen. Die Kopfschmerzen waren wieder stärker geworden, seit er den Wald verlassen hatte. Als ob die verschütteten Jahre sich gegen das endgültige Absinken in die Vergessenheit wehrten und wütend gegen die Wände ihrer Verliese traten. Sobald er in Österreich wäre, würde er Jakob anrufen. Egal, was vorgefallen war, die Familie war dazu da, zusammenzuhalten und sich gegenseitig zu helfen, das hatte ihnen die Großmutter oft genug eingebläut. Er öffnete die Augen. Aus dem schwachen Nieseln am Züricher Bahnhof waren heftige Schauer geworden, die an die Zugfenster droschen und die Landschaft nur mehr als verwaschene Kontur wahrnehmbar machten. Nur sechs weitere Fahrgäste zählte er im Großraumwagen; der ganze Zug war so gut wie leer. In Österreich hatte es laut der Servicemitarbeiter am Züricher Bahnhof so starke Unwetter gegeben, dass die Bahnverbindung über den Arlberg unpassierbar war. Aber die Ausweichroute über Deutschland zu nehmen war für ihn nicht in Frage gekommen. Eine Instinktentscheidung. Die Strecke über Sankt Gallen und Sankt Margrethen erschien ihm vertrauter. Vielleicht
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