Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Jähzorn seine Eltern ermordet hatte. Und dann natürlich der ehemalige Sonnentempler Jean Plier, der seinen Tod vorgetäuscht hatte und auf dubiosen, vom BOG veranstalteten Seminaren, die Teilnehmer drogeninduzierte Geister sehen ließ. Ja, angesichts dieser Faktenlage, die Bergmann den Untersuchungsergebnissen des BVT entnahm, waren das eindeutig Kandidaten, denen man etwas großes Böses zutraute. Jetzt war man dabei, alle Bezugspunkte der drei Toten herauszufiltern und in eine so gut wie grenzenlose Rasterfahndung einfließen zu lassen, die nach Bergmanns Schätzungen allein in Österreich ein paar Hundert Leute beschäftigte. Dass ihm Lorenz darüber ebenso wenig Auskunft gab wie über die Beteiligung ausländischer Geheimdienste und Polizeiapparate, wunderte Bergmann nicht; es war ihm sogar recht. Er hatte nicht beim BVT gelernt und konnte mit dem Ausmaß an Informationsbewältigung und Spekulation, das hier gefragt war, überhaupt nichts anfangen. Wahrscheinlich hatte er aus demselben Grund auch kein Talent für das Schachspiel, hatte trotz mehrmaliger Bemühungen nie etwas anfangen können mit dem wellenartigen Hinauswachsen der Gedanken über die tatsächliche Sachlage, mit dem Übereinanderstapeln unzähliger Möglichkeiten, mit dieser für ihn vom Eröffnungszug an so beängstigenden wie frustrierenden Erkenntnis, dass es nicht etwa genau hundert mögliche Züge gab, die man zu überdenken hatte, sondern unendlich viele. Dass Schäfer in diesem Punkt genau seiner Meinung war, hatte ihn vor Jahren – oder waren es schon Jahrzehnte? – ziemlich erstaunt. Der im ganzen großen kriminalistischen Universum beheimatete Major konnte nicht über zwei Züge hinausdenken? Besser noch: Er klopfte nicht wie sein professionelles Gegenüber nach höchstens einer Minute auf die Schachuhr, sondern fegte nur ein paar Minuten nach Spielbeginn wütend das Brett leer wie Jesus den Tempel von Jerusalem – so zumindest Kamps launiger Bericht über seine einzige spätabendliche Schachpartie gegen Schäfer.
Schäfer. Dass er im Bericht des BVT mit keinem einzigen Wort Erwähnung fand, irritierte Bergmann. Gut, es konnte dessen eigenem Schutz dienen; ihn – falls er noch lebte – davor bewahren, sich irgendwann dafür verantworten zu müssen, trotz mannigfacher Hinweise auf ein verbrecherisches Komplott keine geeigneten polizeilichen Maßnahmen ergriffen zu haben, um die Gefahr eines terroristischen Anschlags abzuwehren. Niemanden ins Vertrauen gezogen, keine hilfreichen Aufzeichnungen erstellt: Versager! Vielleicht hatten aber auch die Fahnder versagt: Schäfers Internet-, E-Mail- und Telefonkommunikation erst dann gründlich durchleuchtet, nachdem ein IT -Profi wie Eisert längst alle relevanten Spuren gelöscht hatte; die Wohnung zu schlampig durchsucht, sodass es Marsant aka Plier noch möglich gewesen war, bei seinem Besuch vorige Woche belastendes Material zu entfernen; kurz gesagt: die Gesamtsituation von Beginn an falsch eingeschätzt. Doch wer wäre beim ersten Blick auf das Spielfeld schon auf derart obskure Verstrickungen gekommen? Wer hätte in Schäfers zweiter Urlaubswoche – gleich beim ersten Aufkommen von Besorgnis in seinem Familien- und Freundeskreis, nachdem er sich ein paar Tage nirgends gemeldet hatte – die Stirne in Falten gelegt und mit spukhafter Stimme gesagt: Weh euch, Unheil dräut! Schachweltmeister Kasparow möglicherweise; der aufgrund einer verlorenen Wette bei Thomas Gottschalk (live aus der Mehrzweckhalle in Oberwart!) seine Kombinationsfähigkeiten eine Woche lang in den Dienst des BKA stellen muss, die Ursache für Schäfers Verschwinden in der Verschwörung einer Geheimloge aus acht selbst ernannten Engelsinkarnationen erkennt, die das Ende der Welt herannahen sehen und zur Beschleunigung oder Selbstrettung gleich die halbe Stadt in die Luft jagen und ein paar Tausende Liter Wiener Blut vergießen wollen. Schuster, bleib bei deinen Leisten!, hätte Kamp dem Russen freundlich geraten, ihm eine Sachertorte im original Holzkistl überreicht und ihn schulterklopfend zur Tür geleitet.
Weil, ha ha: Wenn wir anfangen, solche Hirngespinste ernst zu nehmen! Dann nehmen wir irgendwann noch die Endzeitfantasien von Typen wie diesem Eisert ernst! Dieses unsinnige Bibelgeschreibsel zum Beispiel, das in seiner Wohnung gefunden und vom BVT – der österreichischen Institution, die am wenigsten Spaß verstand – so ernst genommen wie eingehend analysiert worden war und nun auf dem Bildschirm von
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