Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
auserkoren hatte, um sich wahlweise nach einem Streit auszuweinen oder um Dinge zu erfahren, die er nur seinem Kollegen mitteilte. Sie ließen ihn gern in diesem Glauben. Was hätte es gebracht, Schäfer zu erklären, dass sie sich beide fühlten, als ob ihre Freundschaft schon viel länger währte als die Liebschaft auf dem anderen Kanal. In Bergmanns Augen war jene auch wertvoller. Auf jeden Fall beständiger, wie sich letztendlich herausgestellt hatte. Isabelles Umzug nach Den Haag, wo sie immer noch am Internationalen Gerichtshof arbeitete, hatten die beiden gut gemeistert – nach Bergmanns Ansicht war Schäfer ohnehin besser geeignet für eine Fernbeziehung, trotz des immer wieder aufkeimenden Misstrauens, der wechselnden Sehn- und Eifersucht, von denen Bergmann meist aus zweiter Hand erfahren hatte. Wessen Schuld es war, dass sich die Beziehung der beiden von länger werdenden Abständen zwischen ihren Treffen zu einem Zustand entwickelt hatte, der sich am ehesten mit „irgendetwas dazwischen“ erklären ließ? Schuld war das falsche Wort. Es gehören zwei dazu, verschiedene Interessen, beziehungsunfähig, kommunikationsunfähig, vom Mars und von der Venus – Bergmann hatte all die Klischees, Erklärungsversuche und Vorwürfe gehört und sich in erster Linie davor gehütet, Partei zu ergreifen. Was hätte es gebracht, Isabelle nahezulegen, ihre Urlaubspläne mit Schäfer in kleinen Schritten anzugehen. Mit einem verlängerten Wochenende in ihm vertrauten Gefilden zu beginnen. Und nicht gleich einen zweiwöchigen Urlaub zu buchen, den Auto- und Flugzeug-Phobiker einem Zwölf-Stunden-Flug nach Réunion auszusetzen. Gut, dort gab es Berge und Wälder, wo es nicht übermäßig heiß wurde – doch es war eben auch eine Insel; und Schäfer war solchen Ansinnen, von welcher Seite auch immer, stets mit den Argumenten seiner Großmutter begegnet: Wenn der Herrgott gewollt hätte, dass wir fliegen, hätte er uns Flügel gegeben. Kein Wunder also, dass aus dem geplanten Strand-und-Sonnen-Traum eine Beziehungs-Eiszeit geworden war, die in Folge keinem der beiden aufzutauen gelungen war. Wenigstens für Bergmann waren die fragmentarischen Beschreibungen des Urlaubs in Abwesenheit des jeweils anderen sehr unterhaltsam gewesen:
Schäfer: Ich habe da ein sehr aufschlussreiches Gespräch mit dem Polizeikommandanten von Saint-Denis geführt.
Isabelle: Nach dem Abendessen hat er sich mit irgendeinem Provinzpolizisten besoffen.
Schäfer: Der Reichtum der Fauna dort ist wirklich unglaublich.
Isabelle: Und dann hat er sich verkatert den ganzen Tag im Wald verkrochen und Igel beobachtet.
Schäfer: Die Kräfte des Pazifiks, also das ist schon ein Thema für sich.
Isabelle: Das erste und einzige Mal, das er mit mir schnorcheln war, hat ihn ein Lifeguard herausholen müssen, weil er in die Strömung geschwommen ist.
Schäfer: Das war ein sehr interessanter Mann, dieser Schweizer, unglaublich gebildet, mit einem Scharfsinn und Weitblick, faszinierend.
Isabelle: In diesem Hotel hat er sich jeden Abend mit so einem französischen Wirrkopf besoffen, ein Tischler, glaub ich, nur Scheiße haben die beiden geredet.
Das war im November gewesen. Ist ihnen in den folgenden sechs Monaten irgendetwas aufgefallen an Major Schäfer? Hat er Verhaltensweisen gezeigt, die untypisch für ihn waren, hat er neue Kontakte gepflegt, sich von bestehenden Freundschaften zurückgezogen, hat er möglicherweise Drogen genommen? Nachdem Bergmann aufgelegt hatte, blieb er auf der Couch liegen und ging erneut die übliche Fragenliste bei Vermisstenfällen durch. Was war denn untypisch bei einem Unberechenbaren? Neue Kontakte? Keine Ahnung. Vielleicht war Schäfer nach der Arbeit ja regelmäßig zu Prostituierten gegangen, hatte sich gratis bedienen lassen und mit einem Zuhälter angelegt. Vielleicht war er korrupt gewesen und hatte ein paar Unterweltler erpresst. Hätte er, Bergmann, seinen Chef jeden Morgen, wenn dieser mürrisch und wortkarg am Schreibtisch gesessen war, nach seinem Befinden fragen sollen? Dem war nicht nur die Hierarchie entgegengestanden, sondern auch der Selbstschutz. Außerdem: Nein. Schäfer war nicht korrupt. Er war launisch, stur, wankelmütig … aber auch ehrlich, loyal … und dann steht der Nachbar vor den Kameras und sagt: Mein Gott, das hätte ich nie für möglich gehalten. Das war doch so ein korrekter und höflicher Mensch. Was man nicht sehen will, sieht man nicht. Noch dazu, wenn man befangen ist. Es hatte schon
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