Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
sich die beiden ihm zu und zeigten ihm ebenfalls sein eigenes Antlitz. Er legte seinen Kopf in die Hände und weinte; theatralisch, doch um nichts weniger schmerzerfüllt. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, sah auf und blickte in ein vertrautes Gesicht, das diesmal nicht sein eigenes war. Ich bin’s, sagte die Person, der er nicht einmal ein Geschlecht zuordnen konnte. Wer? Ich, wiederholte die Person, doch sobald sie ihren Namen aussprach, dröhnte der Fluss auf wie ein wütender Zensor, der keine eindeutigen Szenen zuließ. Er wandte sich dem Wasser zu: Bitte, ich muss seinen Namen wissen! Das schwere Grollen verstummte, er drehte sich dankbar um, doch da war niemand mehr. Erschöpft schloss er die Augen. Schwebte fort, als wäre er die melancholische Stimme aus einer schläfrig gestrichenen Geige; deren Ton sich plötzlich in ein grelles Pfeifen verwandelte, ein Tinnitus im Gehörgang eines Zyklopen, er schreckte auf und drückte sich die Zeigefinger in die Ohren, auf der Promenade schritten zwei Männer aufeinander zu, unverkennbar trugen sie beide sein Gesicht; als sie auf seiner Höhe waren, fuhr der eine blitzschnell seinen Arm aus und hieb dem anderen seine Handkante auf den Hals, worauf dieser den Kopf nach vorne streckte, die Zunge aus dem Mund stieß, die Hände auf die Brust schlug, kurz aufröchelte, zusammenbrach und die Böschung hinabrollte. Sie haben ihn getötet!, brüllte er von seiner Bank zum Gehweg hin, zornig und verzweifelt, unfähig, sich aufzurichten, unfähig, den Mörder aufzuhalten, der sich mit seinem eigenen grinsenden Gesicht entfernte, unfähig, dem Sterbenden zu helfen, dessen Augen, die seine eigenen waren, erloschen und dunkel wurden wie der gleichmütig dahinziehende Fluss.
11.
Zu viele Gedanken, um einschlafen zu können. Wie sollten sie Müller in die Zange nehmen, wen sollte er den Fall des verbluteten Kroaten neu aufrollen lassen, wie könnte es ihm gelingen, den Richter und seine Verschwörungstheorien in eine schalldichte Kiste zu sperren. Obendrein: Schäfer. Wenn er sich da nicht dahinterklemmte, würde das Tagesgeschäft noch ein paar Schaufeln Erde mehr auf seinen vermissten Chef werfen. Was für ein grausamer Vergleich, den ihm sein Unterbewusstsein da gesandt hatte. Irgendwo in seinem Kopf – wo die bösen Ahnungen und schlimmen Visionen hausten und an den Stäben ihres Käfigs rüttelten – war auch das Bild vom toten Schäfer zu finden. Und indem er es dachte, hatte er den Käfig schon geöffnet: der Sarg, der – natürlich bei weinendem Himmel – von seinen vertrautesten Kollegen über den Friedhof getragen wurde, die schluchzenden Blasinstrumente der Polizeikapelle (Chopin, Marche funébre), die Fahne der Republik, die Uniformen und Orden, die Salutschüsse, die vergeblichen Worte des Priesters, Familie und Freunde, die unter Tränen Rosen ins Grab warfen, erneut die Polizeikapelle (Ich hatt’ einen Kameraden), nur seine, Chefinspektor Bergmanns, Abschiedsworte fehlten noch, es presste ihm die Tränen heraus, nur einen Satz davon zu formulieren, auch wenn er in seinem eigenen Bett lag, auch wenn es keinen Anhaltspunkt für Schäfers Tod gab, es schwemmte ihn weg, ich werde dir einen Meisenknödel an deinen Grabstein hängen, damit zumindest die Vögel immer bei dir sind, damit du nie allein bist, ah, ah, ah, reiß dich zusammen, rief er an die Zimmerdecke und hörte im selben Moment eine SMS in sein Handy einzwitschern. Isabelle, Schäfers Freundin, oder Ex, oder wozu auch immer die letzten Monate ihrer Beziehung sie erklärt hatten. Bist du noch auf?
Er stand auf und rief sie an, während er ins Wohnzimmer ging. Endlich jemand, der nicht zuerst die Frage stellte, ob es was Neues über Schäfer gäbe – obgleich Isabelle zweifelsohne zu jenen gehörte, die sich am meisten um ihn sorgten. Bergmann schätzte es als Zeichen ihres Vertrauens. Sie wusste ohnehin, dass er sie gegebenenfalls sofort informiert hätte. Nicht umsonst hatte sich zwischen ihnen – gleichsam parallel zu Isabelles Beziehung mit Schäfer – eine Freundschaft entwickelt, deren Innigkeit ihn zu Anfang erstaunt hatte. Du bist die Schwester, die ich mir als Kind immer gewünscht habe, hatte er einmal leicht angetrunken bei einer Feier zu ihr gesagt. Und sie hatte die Scham, die er ob dieser Offenheit gleich darauf empfand, mit einer innigen Umarmung erstickt. Schäfer, in seiner üblichen Eitelkeit, hatte immer wieder gemutmaßt, dass seine Freundin Bergmann in erster Linie dazu
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