Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Opferauswahl entwickelt: Die stark erhöhte Aktivität der Schläfenlappen, wie sie bei Epileptikern während eines Anfalls typisch ist – ein Blitzgewitter im Gehirn sozusagen –, war nämlich von renommierten Wissenschaftlern auch bei sehr gläubigen Menschen und in verstärktem Maße bei solchen mit religiösen Visionen beobachtet worden. Tannhäuser eine heilige Bernadette im Rächergewand? Ein Mensch, der einem äußeren Einfluss, welcher Art auch immer, ausgeliefert war, nur Befehlen von oben gehorchte? Diesen Spekulationen hatte der Staatsanwalt zwei so nüchterne wie für die Urteilsfindung entscheidende Argumente entgegengehalten: zum einen, dass nicht Gott es sein musste, der mit seinen Befehlen einen Kurzschluss im Hirn der Auserwählten verursachte, sondern im Gegenteil die organische Erkrankung des Gehirns solche Visionen auslöste; und zweitens den Umstand, dass der vermögende Tannhäuser einen Justizbeamten bestochen und sich damit die Daten von zweihundert verurteilten Verbrechern besorgt hatte – Deus ex Machina, doch die Maschine war ein Computer gewesen.
Bergmann drehte sich zum Fenster hin. Dass dieser Psychopath sich an Schäfer rächen wollte, weil der dessen Selbstjustiz vorzeitig beendet hatte, mochte auf den ersten Blick logisch erscheinen. Wenn man nicht wusste, dass Tannhäuser, der vor Gericht mit dämonischen Flüchen nicht gespart hatte, gegen Schäfer selbst nie ausfällig geworden war. Im Gegenteil: Im ersten Jahr seiner Haft hatte er ihm sogar Briefe geschickt, in denen er den Major als höher gestelltes Werkzeug der göttlichen Macht bezeichnete, die ihn, den kleinsten Knecht seines Herrn, nur kurzzeitig für würdig erachtet hatte und so weiter. Obendrein war Tannhäuser schon vor seinen Taten ein zurückgezogener Einzelgänger gewesen, der vom beachtlichen Erbe seiner Eltern gerade einmal die Zinsen ausgab. Keine Kontakte zur Unterwelt oder zu ähnlich gesinnten Selbstjustizlern – die rechten Fundamentalisten, die seine Freilassung gefordert hatten, waren von ihm als stinkende Satansbrut bezeichnet worden, die das flammende Schwert der himmlischen Gerechtigkeit et cetera.
Wie auch immer: In seiner momentanen Lage würde Müller es sich nicht leisten, Bergmann zu verarschen.
„Kovacs, kommen Sie bitte kurz herüber.“
„Ihr Bruder, Hans, der sitzt in Stein, haben Sie neulich erwähnt …“
„Ja, warum?“
„Besuchen Sie ihn regelmäßig?“
„Ein-, höchstens zweimal im Monat, warum?“
„Müller war gerade hier und hat gemeint, dass Tannhäuser etwas mit Schäfers Verschwinden zu tun hat …“
„Der Tannhäuser? Die Hand Gottes?“
„Genau …“
„Ah, verstehe … ich soll meinen Bruder aufsuchen, ihn bitten, um Tannhäuser herumzuscharwenzeln und wenn er etwas Brauchbares liefert, bekommt er einen Flachbildschirm und eine Playstation in die Zelle …“
„Vielleicht könnten wir ihm auch ein, zwei Jahre ersparen … warum regen Sie sich jetzt so auf?“, fragte Bergmann verwundert.
„Weil … Sie können das nicht verstehen … das klingt für Außenstehende vielleicht kaltherzig, aber ich, meine Familie und ich … wir denken, dass es nicht das Schlechteste für Hans ist … er hat inzwischen eine Schlosserlehre gemacht … er lebt in geordneten Verhältnissen und …“
„Geordnete Verhältnisse? Wie alt sind Sie? Mitte siebzig? … Ihr Bruder sitzt im Gefängnis … glauben Sie nicht, dass er eine zweite Chance verdient hat? In Freiheit?“
Kovacs seufzte, schaute an Bergmann vorbei an die Wand.
„Wenn es nur die Geschichte beim Zeltfest gewesen wäre, vielleicht … aber er ist uns alle angegangen … mein Vater hat drei Narben am Rücken von einer Mistgabel, Robert hat er zwei Zähne ausgeschlagen … der ist nicht normal, verstehen Sie, Familie hin oder her …“
„Tun Sie’s einfach“, erwiderte Bergmann.
„Was?“
„Nach Stein fahren, ihn besuchen, was denn sonst?“, er hatte die Schnauze voll davon, von oben herumkommandiert und von unten abgewiesen zu werden. „Es geht um Schäfer, kapiert?“
20.
Kurze Zeit hatte er überlegt, sich bei Doktor Wieland als jemand anderer auszugeben – Bruder, Cousin, bester Freund –, doch im Gegensatz zu Schäfer, der fremde Rollen tatsächlich auszufüllen vermochte, fühlte Bergmann sich bei solchen Grotesken immer fehl am Platz und bevorzugte es, bei der Wahrheit zu bleiben: Chefinspektor der Wiener Kriminalpolizei, wenn Sie nicht kooperieren, verzichten Sie auf den Pluspunkt, der
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