Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
irgendwann im Leben fast jedes Menschen sehr nützlich sein kann.
Wielands Praxis befand sich im 13. Bezirk; dort, wo dieser an den Lainzer Tiergarten grenzte, die Gassen schmal, die Häuser niedrig waren und nur das abgeschwächte Verkehrsrauschen des dreispurigen Hietzinger Kais daran erinnerte, dass man in einer Millionenstadt lebte. Dazu die alten Kastanien und Ahornbäume, deren Äste vor den Fenstern der Praxis sanft schaukelten; die Immobilienpreise dieser Gegend hatten durchaus ihre Berechtigung.
Bergmann war zehn Minuten zu früh – zeitmäßig war die U-Bahn dem Auto tatsächlich überlegen –, befand sich allein im Wartezimmer und verzichtete darauf, sich zu setzen und zu einem der Magazine auf dem Beistelltisch zu greifen. Zwar hatte er keine genaue Vorstellung davon, wie sich Patienten von Psychotherapeuten in der Regel verhielten – kratzten sie sich ständig, rieben sie die Hände neurotisch gegeneinander, stießen sie alle paar Minuten ein paar Obszönitäten aus, oder versteckten sie sich eben zur Tarnung hinter einem dieser Magazine? –, doch sobald die Tür zur Praxis aufginge und der vorige Besucher herauskäme, wollte Bergmann lieber stehend angetroffen werden als versunken in einem der weißen Komfortstühle, dazu angetan, die drückende Last des Lebens zu mildern. Er war kein Fall. Er war nur unrund. Als er beim Verlassen des Gebäudes an Kovacs’ Büro vorbeigekommen war, hatte er mitbekommen, wie sie sagte: „Sein Problem ist, dass er keinen Humor hat!“ Und wo es sich gehört hätte, dass er die nur angelehnte Tür aufgestoßen und in den Raum geschrien hätte: „Auch das finde ich nicht lustig!“, war er leisen Schritts weitergegangen und hatte seinem Groll erlaubt, sich auf dem Weg in den Dreizehnten zu vervielfachen. Humor! Natürlich hatte er den; es gab Dinge, über die er lachen konnte. Aber diesem zwanghaften Witzereißen mancher Kollegen konnte er nichts abgewinnen. Was war denn so lustig an einem jungen Mann, der nach dem Sprung von einem Kirchturm im 1. Bezirk neben einem Karikaturenzeichner zerplatzte? An einer Frau, die sich bei einer Tankstelle vier Säcke mit Eiswürfeln kaufte, um diese bei ihrem freiwilligen (und missglückten) Ertrinkungstod in der Donau als Ballast zu verwenden? Was war so lustig an dem schon so abgedroschenen Geplänkel zwischen Schäfer und dem Gerichtsmediziner? Ein ritualisiertes Geweihstoßen zweier Zyniker, die schon zu lange gemeinsam in diesem Beruf arbeiteten, als dass sie noch normal miteinander reden konnten. Daran wollte Bergmann sich nicht beteiligen. Er erkannte keinen Sinn dahinter. Aber das hieß noch lange nicht, dass er keinen Humor hatte!
Die Tür zum Ordinationszimmer ging auf, Wieland erschien mit einer elegant gekleideten Frau um die fünfzig, die offensichtlich nicht nur in die Psychotherapie, sondern auch in die plastische Chirurgie ordentlich investierte. Herr Doktor, nicht einmal ein neuer Nerz ist noch in der Lage, mir eine Freude zu bereiten, ging es Bergmann durch den Kopf, und dann: Ha, das war jetzt witzig!
Wieland half seiner Patientin in die Jacke, hielt ihr die Hand hin, die sie mit ihren beiden weich umschloss, er flüsterte ihr ein paar aufbauende Worte zu und brachte sie zur Tür. Was zum Teufel hatte Schäfer bei diesem Psychopriester verloren gehabt?
„Sind die da ein Zugeständnis an Ihre Patienten oder haben Sie sich selber noch nicht festgelegt?“, Bergmann deutete auf die verschiedenen Glaubenssymbole, Figuren und Bilder, mit denen der Therapeut die Wände und Regale seiner Ordination dekoriert hatte: Jesus, Engel und andere Lichtgestalten, Buddha, Shiva, Yin und Yang und alles, was der Religionsmarkt sonst noch so hergab.
Wieland lächelte und drehte sich mit seinem Stuhl um neunzig Grad, als würde er sonst nicht wissen, wovon Bergmann sprach.
„Tja … so tröstlich der Glaube sein kann, so einengend ist er mitunter auch. Aber das Gute daran ist, dass man sich jeden Tag entscheiden kann. Ich sehe das eher als Orientierung, als Übersicht über die zahlreichen Möglichkeiten, die einem offenstehen … worunter natürlich auch die Psychotherapie und die Schulmedizin fallen … also, Herr Bergmann … Chefinspektor Bergmann … wie kann ich Ihnen helfen?“
„Mein Vorgesetzter, Major Schäfer, wird seit geraumer Zeit vermisst … er war bei Ihnen in Behandlung?“
„Ja … drei Monate …“
„Wissen Sie, wo er sich aufhält?“
„Nein …“
„Wie war sein Zustand zuletzt? … Aus
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