Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Meister Lampe, Leitner …“
22.
Die vergangene Nacht hatte ihm eine so ausschweifende wie rätselhafte Geschichte erzählt, die er im Laufe des Tages hartnäckig zu entschlüsseln suchte. Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder, seine Großeltern … diese Menschen aus seinem Traum waren so eindeutig wie die meisten ihrer Handlungen: alltägliche Begebenheiten aus Kindheit und Jugend, meist im Duktus familiärer Verbundenheit erzählt, wenn auch von seufzenden Gefühlen begleitet, Sehnsucht, Heimweh, verlorene Liebe … weniger klar war jedoch ihr Alter, das sich ständig zu ändern schien. Jakob: vom nur zwei Jahre älteren Bruder mit schulterlangen Haaren und Möchtegern-Revoluzzer-Bart zu einem erwachsenen Mann im Arztkittel, Kurzhaarschnitt, erste graue Haare über den Ohren, glattrasiert, verantwortungsvoller Blick, Brüderchen, was ist denn mit dir passiert? Auch sein Vater machte im Laufe der Nacht eine verstörende Wandlung vom kraftvollen Kerl mit behaarten Händen zum gebückt durch eine kleine Werkstatt huschenden Mann mit schütterem grauen Haar und knöchernen Fingern durch. Einzig seine Mutter schien in ihrem Alter gefangen; wobei ihr Gesicht auch weniger stark in Erscheinung getreten war als ihr gesamtes Wesen in der von ihm gefühlten Bedeutung: von der Liebe und Sorge hin zur Angst, zur Wut, zur Verzweiflung, zu einer zunehmenden Gelassenheit, die mit den immer noch bestehenden Sorgen zu leben gelernt hatte. Seine Eltern, ja, denen hatte er das Leben sicher nicht leichter gemacht mit seinem Zorn, mit seiner Verlorenheit, die ihn in den Exzess trieb, mit, mit, mit … wer waren die Menschen und Tiere, die sich so plötzlich in sein junges Leben stürzten, ihn mit Messern schnitten, ihn bissen, schlugen, auf ihn schossen, ihn bluten ließen … in welche Schlachten, welchen Krieg war er in diesen mystischen Sequenzen geraten, und wer waren die Leute, die auf seiner Seite kämpften, wer war dieser Hüne auf dem aus der Flanke blutenden Pferd, der an seiner Seite durch einen finsteren Wald ritt und die Gespenster in ihren schwarzen Kutten mit einem silbernen Schwert vertrieb? Er erkannte ihn wieder. An seiner Stimme. Der Mann, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, als er sein vervielfachtes Ich auf einer Uferpromenade vorbeispazieren gesehen hatte.
Er hatte sich verirrt. War zu lange seinen Gedanken, seinem Traum nachgehangen, sodass er sich nicht wie sonst die Himmelsrichtung seines Marschs immer wieder bewusst gemacht hatte. Er bekam es mit der Angst zu tun. Doch warum? War dieser Platz nicht so gut wie der zuvor? Was hatte er denn zurückgelassen außer einer Kuhle unter einer Lärche? Aus irgendeinem Grund war ihm diese Stelle des Walds dennoch nicht geheuer und er begann zu laufen. Bis er eine Lichtung wahrnahm, dahinter eine Wiese wie nicht von dieser Welt: märchenhaft mit Akeleien, Feuerlilien und Wollblumen. Langsam, wie verzaubert schritt er zwischen den Blumen hindurch – vorsichtig, nur ja keine zertreten – und sah sich am Ende der Wiese auf einem schmalen Streifen puren Grases stehen, einen halben Meter tiefer das in der Nachmittagssonne schillernde Wasser eines Teichs. Ohne zu überlegen zog er sich aus, stieg zum Ufer hinab, prüfte mit der Hand die Temperatur und glitt hinein. Ein paar Züge schwamm er unter der Oberfläche, tauchte auf und tobte sich aus wie ein junger Hund im frischen Schnee. Wie eine reinigende Taufe war ihm das Wasser, erfrischend, klärend, reines nasses Glück. Er ließ sich auf dem Rücken treiben, im Blickfeld nur den Himmel. Wie schön es hier ist. Wie schön es hier ist und ich darf nicht bleiben, murmelte er, seine eigene Stimme nicht erkennend. Warum?, fragte er sich, fragte er die fremde Stimme, warum darf ich nicht bleiben?
Sie werden sie töten. Zuerst deine Dämonen, dann deine Engel. Lauf, Schäfer, lauf!
23.
Scham, o Scham, o grenzenlose Scham! Übelkeit und Kopfschmerz auch, natürlich, doch gegen diese ätzende Scham verhielten diese sich wie ein Hühnerauge am Raucherbein. Das war kein Kater, der auch ein wenig ins Gewissen biss. Das war: alttestamentarisch. Er wollte versinken in Schäfers Bett, durch den Boden, durch das Erdreich, bis nach Australien, China oder was auch immer auf der anderen Seite lag. Nie, nie, nie! Noch nie in seiner Polizeikarriere hatte er sich so gehenlassen. Gehenlassen? Sich zum Affen gemacht, zum Narren, zum Proleten, zum Vollidioten, zu einer Schande nicht nur für die Polizei, für die Menschheit, die
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