Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Beifahrersitz geräumt hatte. Sie waren ein paar Kilometer gefahren, als er zum ersten Mal einen Blick in den Rückspiegel wagte. Von ungepflegtem Äußeren würde in einem Fahndungsaufruf stehen. Und das Alter des Gesuchten? Ende dreißig, eher noch Anfang bis Mitte vierzig, mein Gott, er war ein alter Mann. Das hieß, dass ihm zwanzig Jahre seines Lebens fehlten! Er war drauf und dran, in Tränen auszubrechen oder sich aus dem fahrenden Auto zu werfen.
„Gaats guet?“, fragte die Frau, und er darauf: „Wird schon wieder.“
„Ich habe mein Gedächtnis verloren“, wagte er nach etwa zwanzig Minuten, das Schweigen zu durchbrechen, das seine Fahrerin, die sich als Ruth vorgestellt hatte, nicht weiter zu stören schien. Sie hatte eine CD von Lambchop eingelegt, summte zur Musik und sang zwischendurch leise den Refrain mit.
„Kä Schärz?“, sie zeigte ihm ein Gesicht, das weniger Besorgnis als freudige Überraschung zeigte.
„Kein Scherz …“
Sie drehte das Radio ab, sah auf die Straße, sah wieder ihn an; als ob sich der verwahrloste Autostopper neben ihr als George Clooney entpuppt hätte, der sich im Schweizer Hinterland intensiv auf seine Rolle in einem Thriller vorbereitete.
„Und waas weisch du no?“
„Das meiste, was bis einundzwanzig passiert ist …“
„Und wiä alt bisch jitz?“
„Wüsste ich auch gern … was schätzen Sie, du?“
„Vierzgi … foifevierzgi maximal … hoppla, sorry“, sie riss das Lenkrad nach links und brachte den Wagen gerade noch dazu, nicht im Graben zu landen. „Verruckt … dänn weisch nüt vo de letschte zwäntzg Jahr?“
„Wenn ich schlafe, tröpfelt es langsam herein … nicht viel, nein …“
„Hm“, machte sie und fuhr erst mit dem Reden fort, nachdem sie einen Lkw überholt hatte, „dänn bring ich dich gschiider zum Dokter, oder?“
„Nein … davor möchte ich mir noch Gewissheit verschaffen über ein paar Dinge …“, sie fuhren auf den Autobahnzubringer auf, wo zur Rechten drei Plakatwände aufgestellt waren; auf einer Werbung für einen Schokoriegel. „Marsant!“, brach es aus Schäfer heraus, „Phillipe Marsant …“
„So heissisch?“, fragte sie nach einem Schreckmoment.
„Nein … ich heiße Johannes Schäfer“, erwiderte er angespannt, „Phillipe ist … ein Freund … oder auch nicht …“
Kurz vor Montreux bat er Ruth, ihn an einer Tankstelle hinauszulassen. Dort würde er am ehesten eine Mitfahrgelegenheit finden. Ich bringe dich zum Zug und kaufe dir die Fahrkarte, erwiderte sie bestimmt. Am Bahnhof von Montreux stieg sie mit ihm aus, begleitete ihn in die Wartehalle und hob bei einem Bankomaten fünfhundert Franken ab.
„Das kann ich nicht annehmen“, sagte er, als sie ihm die Scheine hinhielt.
„Es bliibt der nüt anders übrig“, sie steckte das Geld in seine Hosentasche und sah ihn schmunzelnd an.
„Du bekommst es zurück … versprochen …“, sagte er und umarmte sie unbeholfen. „Du bist wirklich ein guter Mensch …“
„Ich habe mich immer auf die Güte von Fremden verlassen“, erwiderte sie auf Hochdeutsch, und auf seinen fragenden Blick: „Tennessee Williams, Endstation Sehnsucht … Salut, Johannes, hebder Sorg!“
30.
Troger? Was hatte seine DNS am Lederband dieses Anhängers verloren? Bergmann legte den Bericht zur Seite, den das Labor am Vormittag geschickt hatte. Andreas Troger, ein Jus-Student, der im Februar desselben Jahres seine Eltern ermordet hatte, nachdem sie ihm aufgrund seiner Spielsucht die finanzielle Unterstützung gestrichen hatten. Die Festnahme war nur ein paar Stunden nach der Tat erfolgt, doch die Vernehmung zog sich über Tage. In vier Semestern Rechtswissenschaft hatte Troger zwar nicht gelernt, wie man als Mörder seine Spuren beseitigt, aber doch genug an teuflischen Advokatentricks, um sich abwechselnd als unschuldig zu präsentieren – ich habe sie gefunden und versucht, sie wiederzubeleben, deswegen meine Abdrücke überall. Ich stand unter Schock, deshalb habe ich die Polizei nicht gerufen –, als unzurechnungsfähig – schon als Kind hatte ich diese Anfälle, wo mir danach einfach ein paar Stunden gefehlt haben –, oder auch als Opfer, das endlich die Kraft gefunden hat, sich an seinen Peinigern zu rächen – mein Vater hat mich missbraucht und meine Mutter hat zugesehen. Am dritten Tag, sie hatten Troger erneut sechs Stunden vernommen, drehte Schäfer Video- und Tonaufzeichnung ab, holte das Wiener Telefonbuch aus dem Büro und schickte Bergmann
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