Engelsberg
können, ohne zu irgendwem von seiner Liebe und seinen Schrecknissen sprechen zu können? … Und sie? Wie sie wohl lebt? Wer kommt für sie auf? Wie schafft sie es, nicht zu verhungern? Wer wird ihr jetzt vor ihrem Fenster den Hof machen? Woran wird sie denken des Nachts, wenn die anderen sich Arm in Arm zerstreuen? Ob sie wohl an mich denkt? Wird sie denken, dass ich an sie denke? Denkt sie, ich würde bald gefasst werden? Denkt sie: Wie lange wird er durchhalten? Wo er wohl die nächste Nacht verbringt? Womit bedeckt er seine Blöße, wenn ihm die zerfetzten Kleider vom Leibe fallen? Wie lange wird er durchhalten? … Mein Gott, ob sie denkt, dass ich gerade jetzt an sie denke? Ob wohl auch sie gerade jetzt an mich denkt, ob wohl unsere Gedanken vielleicht gerade jetzt zusammenfließen irgendwie? Sind dann unsere Gedanken jetzt vereinter als je zuvor? Sind wir vereinter als je zuvor? Ob sie wenigstens begriffen hat, wie sehr ich sie liebe? Wird in ihrem Schmerz Platz für mich sein? Wird sie mir vergeben haben? Wird sie jetzt wissen, wie ich es weiß, was eine große Liebe wirklich ist? Wird sie wissen, dass ich trotz allem fast glücklich bin, einfach wegen der Tatsache, hungrig, gejagt, verurteilt und umzingelt zu sein und dennoch zu leben und zu wissen, dass irgendwo auch sie lebt und aus dem einen oder anderen Grund manchmal an mich denken muss? Wenn nicht von sich selbst, dann wenigstens durch mich muss Cecilia wissen, was eine große Liebe wirklich ist; und daher sind wir so oder so Verschworene und auch Freunde. Und das genügt. Weil eine große Liebe, damit sie es ist, sich nicht nur nicht verwirklichen, sondern nicht einmal vom Hoffen auf ihre Verwirklichung gestört werden darf; weil eine große Liebe nicht Ruhe und Befriedigung ist, sondern Entsagung, Ferne und vor allem Verfolgung, damit das geliebte Wesen glücklich ist, selbst wenn wir es dafür in die Arme unseres Rivalen geben müssen … Jetzt, da ich meinen Rivalen getötet habe, verstehe ich es .
Nachwort von Ottmar Ette Lesen, Leben, Lieben: Vom Schreiben (in) einer wahnwitzigen Welt
Eine Literatur, die Wind und Wetter trotzt
»Unsere Literatur ist Wind und Wetter ausgesetzt. Und auch meine Werke sind wohl Wind und Wetter ausgesetzt. Keine Worthülsen schützen sie. Wie in eine Savanne kann der Leser in sie eintreten, wo immer er mag. Er kann mit dem Anfang eines Buches ebenso beginnen wie mit dessen Ende.«
Mit diesen prägnanten Worten umschrieb der 1943 in einem Provinznest im Osten Kubas geborene Reinaldo Arenas wenige Monate nach seiner geglückten Flucht in die USA die Bedingungen der Literatur seines Landes wie vor allem die Anlage seines eigenen Schreibens. Kuba – so formulierte er in diesem Interview mit Perla Rozencvaig, das 1981 erschien – sei eine Insel, »von allen Seiten offen für den Wind, für die Sonne, für den Blitz, für das Meer«. Und wenn ihre Bewohner etwas auszeichne, dann sei es »das Eklektische: dieses Verschiedenartige, Offene, Unablässige«. Damit meinte Arenas zweifellos eine nicht nur klimatische, sondern auch kulturelle Durchlässigkeit, wie sie vier Jahrzehnte zuvor der kubanische Kulturtheoretiker und Anthropologe Fernando Ortiz mit seinem Konzept der Transkulturation begrifflich gefasst hatte. So taucht der Name von Ortiz’ Erbin, der bis zu ihrem Tod im Exil lebenden Anthropologin und Erzählerin Lydia Cabrera, auf den Seiten des vorliegenden Bandes nicht von ungefähr auf. Doch Offenheit ist im obigen Zitat eine durchaus ambivalente Kategorie, kann das Wetter auf einer Insel doch schnell umschlagen. Nicht nur im klimatischen Sinne.
Reinaldo Arenas, dieser leidenschaftliche Inselbewohner, wusste, wovon er sprach, wenn er die Sonne wie den Blitz, den Wind wie das Meer erwähnte. Das Enfant terrible der kubanischen Literatur war bald nach dem triumphalen Sieg der Revolution Fidel Castros, Che Guevaras und Camilo Cienfuegos’ zur Ausbildung nach Havanna gekommen und hatte die strahlenden Jahre der Revolution von 1959 zunächst euphorisch erlebt, die Welt der Literatur und die Welt der Liebe – bei ihm oft aufs Engste miteinander verbunden – kennengelernt. Die quirlige kubanische Hauptstadt wurde in den sechziger Jahren zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebens und bald auch seines Schreibens: Rasch entstanden erste Erzählungen und experimentelle Romane, die Arenas’ Namen schnell international bekannt machten. Es sind Jahre der Erprobung, der Entwicklung, des unablässigen intensiven
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