Engelsblut
beschwor Andreas erneut. »Ich bin schuldig!«
Da überlegte Bürgermeister Scheyrer – übereilte Entscheidungen lagen ihm nicht –, nickte dem erstarrten Andreas zu und klingelte schließlich nach seinem Sekretär, der erst seit wenigen Monaten Dienst tat und der leider Gottes ein Tölpel war.
Schnatternd, weil nervös geworden, rief er ihm Befehle zu.
»Setz Er sich«, dröhnte er. »Setz Er sich, nimm Er zwei Bögen Papier, hör Er gut zu, zwei Bögen! Zuerst beschreibe Er den einen, dann den anderen. Hintereinander! Nur nicht alles auf den einen. Also los, mach Er schon – und unterstehe Er sich zu patzen! Das sollte mir noch fehlen, dass man mich verlacht, weil mein Sekretär Tintenflecke macht! Also – Er schreibe auf den ersten Bogen: Mit wachsender Sorge nehme ich zur Kenntnis, dass sich eine in ihrem Bestreben unerhörte Gemeinschaft in dieser Umgebung festgesetzt hat und die christliche und kaisertreue Lebensweise zu zersetzen gedenkt. Es drang bis zu meinem Ohr, dass der Anführer dieser Gemeinschaft sich nichts Geringeres zuschulden kommen lässt, als mit menschlichem Blut Engelbilder zu malen, die alsdann zum Verkaufe stehen. Der Verdacht steht mir nicht fern, dass diese gefährliche Gemeinschaft Ähnlichkeiten mit den aufrührerischen Taten eines Andreas Resch, eines Michael Burglehner, eines Franz Lindner, ja gar eines Michael Huemer, den man Kalchgruber nannte, besitzt, welche zu ihren Lebzeiten für Unruhe hierzulande sorgten. Ich bin mir dessen gewiss, dass solch unziemliches Verhalten aufs Schnellste zur Beendigung gebracht werden muss, und erbitte mir dafür Eure Bestätigung.«
Maximilian Scheyrer hielt aufseufzend inne. Das schnelle Diktieren erschöpfte ihn. Er kramte ein spitzenbesetztes Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn ab. Sein Schweiß hinterließ keine Spuren.
Andreas fühlte seine eigene Stirn nass werden, während die Feder des Sekretärs kratzend über das Papier fuhr. Misstrauisch lehnte sich Scheyrer vor, um das Geschriebene zu besehen. Er erspähte keinen einzigen Tintenfleck.
»Nun denn«, erklärte er ungeduldig. »Und jetzt nehme Er den zweiten Bogen... jawohl! Unterstehe Er sich, das Weitere einfach zum Ersten dazu zu schreiben! Gib Er doch Acht, dass Er das Tintenglas nicht umwirft! Und nun schreibe Er – nun, mach Er schon, ich will mich nicht den ganzen Tag damit aufhalten! – Er schreibe: Mit wachsender Aufmerksamkeit nehme ich zur Kenntnis, dass sich eine in ihrem Bestreben ungewöhnliche Gemeinschaft in dieser Umgebung ausbreitet und das Interesse der christlichen und kaisertreuen Bürger mehr und mehr erweckt. Da ich mein Ohr der Kunde eines überdurchschnittlichen Genies nicht verschließen wollte, bekam ich davon Nachricht, dass der Anführer dieser Gemeinschaft nichts Geringeres vollbringt, als mit außergewöhnlichen Mitteln – darunter, so hört man, auch Blut – wunderschöne Engelbilder zu malen, die alsdann verkauft werden. Der Verdacht, dass diese harmlose Gemeinschaft Ähnlichkeiten mit den aufrührerischen Taten eines Andreas Resch, eines Michael Burglehner, eines Franz Lindner, ja gar eines Michael Huemer, den man Kalchgruber nannte, besitzt, ist vollkommen ungerechtfertigt und durch nichts zu belegen. Ich bin mir dessen gewiss, dass dieser Künstler zu fördern ist, und erbitte mir dafür Eure Bestätigung.«
Maximilian Scheyrer seufzte wieder erschöpft. Der Sekretär beeilte sich, zu Ende zu schreiben.
»Das Schreiben ist für das Landespräsidium bestimmt«, erklärte der Bürgermeister schließlich. »Ich erwarte, dass Er Anrede und Gruß eigenständig einsetzt und...«
»Ich soll beide Briefe verschicken?«, fragte der Sekretär entsetzt.
»Tölpel!«, fauchte Scheyrer. »Denkst du, ich bin ein Narr?«
Er fächelte mit seinem Spitzentaschentuch. »Nein«, setzte er versöhnlicher hinzu. »Er wird jetzt durchs Städtchen wandern und jeden Entgegenkommenden danach befragen, was von einem gewissen Samuel Alt zu denken sei. Jawohl, Samuel Alt ist der Name. Was immer Er erfährt, sei eilig notiert, um hernach eine Aufstellung davon zu geben, wie viel Zustimmung und wie viel Ablehnung für Samuel Alt zu vermelden ist... Nun glotz Er mich doch nicht so verständnislos an! Das kann doch nicht so schwierig sein! Mach Er schon! Geh Er!«
Der Sekretär fuhr eiligst auf.
Der Bürgermeister lehnte sich zurück. Andreas hockte gekrümmt. Wartend sprachen sie kein Wort und tranken auch keinen Likör mehr.
Bürgermeister Scheyrer
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