Engelsblut
Verstand und Eure Nüchternheit nicht gutheißen können, dass Menschen ihr Blut hingeben für Bilder!«
Andreas seufzte erschöpft. Es hatte kein Plan dahinter gestanden, den Doktor in seinen Verrat einzuweihen. Dennoch bereute er es nicht.
Doktor Mohr hörte zu, bleckte die Zähne und blieb im kühlen Wind hocken. Erneut griff er tastend nach seinen Haaren und begann erst nach langer Pause zu sprechen. Bedächtig schien er an seinen Worten zu kauen, als wolle er sie schmecken und erproben.
Andreas lauschte angestrengt und hoffte für Augenblicke, dass es der Doktor sein könnte, der ihn schuldig sprach und der seinem schändlichen, sittenlosen Leben ein Ende machte.
»Aber es gibt keinen Ort, da ich der Wissenschaft und der Vernunft mehr dienen könnte als an diesem«, sagte da jener. »Ihr nennt ihn einen Ort der Liebe – doch für mich ist’s einer, wo ich der Liebe entfliehen kann wie an keinem zweiten!«
Dumpf hörte Andreas Doktor Thomas Mohr weitersprechen. Während er saß und lauschte, dachte er, dass dies der letzte Abend war, den er hier zubringen würde. Morgen würde er nicht mehr hier sein. Morgen würde keiner mehr seinen Namen rufen. Man würde hier leben und malen und Samuel verehren – aber er hätte damit nichts mehr zu tun.
Dies dachte er, während der Doktor von seinem Leben sprach, anstatt ihn schuldig zu sprechen. Jener tat es mit sanfter Stimme, einladend und bekennend. Ohne Mühe glitt Andreas in die erzählte Geschichte – und tauchte gleichsam in sein eigenes Leben ein. Es zog an ihm vorüber wie des Doktors Worte. Es hielt sich an einzelnen Stunden auf und ließ sie dann fallen, als sei, von diesem Abend aus betrachtet, keine mehr wert als die andere.
Doktor Mohr berichtete, warum er vor der Liebe floh.
»Es ist viele Jahre her«, begann er. »Ich war Medizinstudent und wurde in ein Haus gerufen, wo die Tochter an Schwindsucht litt. Sie hieß Angelika und war gelbweiß im Gesicht. Ich gab ihr noch einen Monat zu leben, bestenfalls zwei, worauf die Mutter mich tränenerstickt bat, ihr Beistand zu leisten bis zum Sterben. Ich sagte zu. Mir wurde Geld geboten für diese letzte Aufsicht. Angelika selbst ließ man im Ungewissen.«
»Und darum meidet Ihr die Liebe?«, fragte Andreas. Das Licht schwand vom Himmel. Struppig hing es hinter letzten bleichen Wolken.
»Nein, nicht deswegen«, sagte Doktor Mohr ruhig. »Ich begleitete Angelika auf einem ihrer letzten Spaziergänge. Ich musste sie stützen, sie war schon schwach. Zuletzt konnte sie keinen Schritt mehr weitergehen und blieb stehen. ›Nicht wahr‹, begann sie, ›nicht wahr, ich habe die Schwindsucht, ich werde daran sterben. Aber meine Eltern haben Sie gebeten, mir nichts davon zu sagen.‹ Sie sah mich mit ernstem Antlitz an. ›Ich fühle, dass Sie ein Mann sind, der noch nie eine Frau begehrte und der noch nie eine zu heiraten wünschte. Selbst jetzt, in diesem Augenblick, denken Sie nicht, ach, was für ein armes, hübsches Fräulein, wie schade ist es um sie. Nein, Sie sehen nur die Krankheit, an der ich leide.‹ Sie zögerte und schluckte, ehe sie fortfuhr. ›Sie sind einer, Herr Doktor, der noch niemals liebte. Und darum bitte ich Sie – sprechen Sie zu mir, sagen Sie, Fräulein Angelika, ich liebe Sie, ich will Sie zur Frau nehmen, ich will mit Ihnen Kinder haben. Denn wenn Sie das tun, so weiß ich, dass ich todkrank bin, dass Sie mir aus reiner Höflichkeit einen letzten Dienst erweisen, dass Sie nicht an mein Weiterleben glauben.‹ Ich stand schweigend, sie auch. Sie zitterte. Obwohl sie ahnte zu sterben, konnte sie den Lebenswillen nicht vertuschen. Inständig hoffte sie auf ein gnädiges Urteil. Ich aber sagte: ›Fräulein Angelika, ich liebe Sie.‹ Da wusste sie um ihren Tod, verkniff den Mund und heulte meine Schulter nass.«
»Und darum meidet Ihr die Liebe?«, fragte Andreas wieder. Er starrte auf die verästelte Hecke. Zu Lebzeiten seines Vaters war der Garten streng beschnitten worden. Andreas hatte sie verwildern lassen wie das, was er für Samuel fühlte.
»Nein, nicht deswegen«, sagte Doktor Mohr. »Ich spielte Angelika meine Liebe vor. Ich hielt um ihre Hand an. Ich war sicher – die Hochzeit würde sie nicht mehr erleben. Und nicht nur ich wusste das, auch sie. Am Tag, da die Verlobung gefeiert wurde, kam sie die Treppe ganz in Schwarz herabgeschritten. Ihre Hände waren in schwarzen Handschuhen; zwischen den Brüsten ruhte ein schwarzes Kreuz; in ihrem Haarknoten steckte ein
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