Engelsblut
Vetter ins Gesicht, schmeckte mit feuchten Lippen seine Wangen und streifte mit seinen Locken über Samuels Schläfen. Seine Hand glitt sanft über den Rücken, während er den schmalen Mund küsste, der von den geweinten Tränen salzig schmeckte.
»Wenn es dein Entschluss ist, Engel zu malen«, raunte Andreas, »dann lass mich an deiner Seite stehen, um dir zu helfen, dir zu dienen, dir treu zu sein. Ich weiß, dass es gegen die Sitten ist. Aber lass mich dich berühren. Lass mich dich lieben!«
Seine Hand strich Samuel über den Rücken, umfasste seinen Nacken und streichelte ihn sanft. Er presste den verhärteten Körper an seinen, versuchte, ihn zu erweichen und von der Hitze zu zehren, die vorhin in Samuels Stimme und seinem Entschluss gelegen hatte.
Kurz stand Samuel still, und kurz glomm diese Hitze nach, ehe er sich losriss, Andreas von sich stieß und auf ihn einschlug.
»Rühr mich nicht an!«, kreischte er, hob die Faust und schlug wieder und wieder in Andreas’ schmales Gesicht, bis der aus der Nase blutete. Er legte beide Hände um den schmalen Hals und drückte so lange zu, bis Andreas’ Kopf rot anlief. »Rühr mich bloß nicht an! Wag es nicht! Ich male Engel, und Engel darf man nicht berühren! Engel kennen keinen Körper und keine Geschlechtlichkeit! Der Engel Liebe ist rein und nicht beschmutzt vom schändlichen, abartigen Treiben der Menschen! Fass mich nicht an! Fass mich bloß nicht an!«
Andreas rang nach Atem, spuckte, stöhnte und sank schließlich in sich zusammen.
Da ließ Samuel von ihm ab, trat von ihm fort und scherte sich nicht darum, dass Andreas verzweifelt zu heulen begann. Ohne den Blutenden noch einmal anzusehen, hockte er sich stumm vor seine Staffelei und fing an zu malen. Er sah Andreas nicht, der stundenlang schluchzte, ehe er im Morgengrauen geschunden aufstand und trostlos von dannen zog, da er es nicht wagte, von dem verbissen Malenden Abschied zu nehmen.
Im Sommer nach seinem Entschluss, Engel zu malen, trat Lena in Samuels Leben. Sie verschrieb sich ihm und lernte durch ihn, sich zu waschen.
Lena war ein Häuslerkind, zum Hungern und Schuften geboren, in eine endlose Kette von heruntergekommenen Tagen gespien. Lena war hässlich, bucklig, unauffällig und grau. Und Lena war die mächtigste Frau, die es jemals unter den Menschen gab.
Wer sie erblickte, zuckte zusammen, wer ihren Namen hörte, gab ihn raunend weiter, und wer um ihre Nähe wusste, wich ihr aus. Man starrte ihr ehrfürchtig nach, niemals aber in die Augen, denn ihre Augen waren gefährlich und ihr Blick verhext.
Es wurde ihr nachgesagt, dass sie als Kind mit der bloßen Macht ihrer Augen ein Kätzchen zum Leben erweckt hätte, das von einem Bauern achtlos zertreten worden war. Niemand war dabei gewesen, der von diesem Ereignis hätte berichten können. Aber alle kannten einen, der davon gehört hatte. Und selbst wenn es nicht der Wahrheit entsprochen hätte – das Kätzchen gar nicht erst totgetreten und Lena keine Lebensspenderin gewesen wäre –, so verhielt es sich doch so, dass man sie jedes Mal kommen ließ, wenn eine Kuh kalbte. Meist tat sie nichts, als glotzend daneben zu stehen, aber wenn sich der Geburtsvorgang verzögerte, wenn die Kuh schwächelte, dann reichte oft Lenas Blick, dass das Kalb nachgab, sich nicht im engen Geburtskanal versteckte, sondern auf den Stallboden fiel. Wieder konnte man nicht genau sagen, ob das Kalb nicht auch von ganz allein auf die Welt gekommen wäre. Aber es war tröstlich zu wissen, dass da eine war, deren Blick eine so starke Macht zu haben schien. Manch schwangere Magd fühlte sich in ihrer Nähe sicher, ließ Lena zum Gebären kommen und berichtete allzu gerne, dass jene im entscheidenden Moment den Blick gehoben und geglotzt hätte.
Nicht nur solches wurde berichtet. Um zu erklären, woher Lena diesen Blick hatte und was ihn so außergewöhnlich machte, erfanden die Menschen eine Legende, die nicht nur der Macht ihrer Augen, sondern auch der Macht ihrer Stimme huldigte.
Als Lena geboren wurde, so besagte die Mär, war es Mitternacht, und die Welt schlief. Es war Winter, die Menschen hatten sich zurückgezogen, die Natur war in ihren kleinsten Winkel geschrumpft. Niemand wachte, nur die Mutter, die sich an den Wehen quälte, und die Hebamme, die ungeduldig zusah, bis das Balg ans Licht gepresst war. Die Stunden wurden lang, die Schmerzen der Gebärenden heftiger, dann lag das Neugeborene endlich draußen. Zuerst dachte die Hebamme, es würde
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