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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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sterben, denn es japste nach Luft, tat aber sonst keinen Laut. Doch als die Mutter fragte »Lebt’s?« und die Hebamme mürrisch wegen der späten Stunde den Kopf schüttelte – da tat das Neugeborene einen Schrei. Der blieb den beiden Weibern, die dabei waren und ihm lauschten, nicht als sonderlich durchdringend im Gedächtnis. Aber als er erklang, blieb die Welt kurz stehen, und wäre es Tag gewesen, so hätte es ein großes Durcheinander gegeben: Alle Menschenkinder wären übereinander gefallen, da sie durch ein jähes Bremsen beim Voranschreiten ins Straucheln geraten und gestolpert wären.
    Mit der Erde stand auch alle Ordnung still. Obwohl es Nacht war, zeichnete sich in der Finsternis ein Licht ab, das der Sonne glich. Und als die Menschen am nächsten Tag die Türen und Fenster der Stuben öffneten, sahen sie, dass sich die Schneedecke gehoben hatte und darunter kräftige Wiesen und leuchtende Blumen sprossen. Sie rieben sich verwirrt die Augen, begannen aufgeregt zu tuscheln, glaubten nicht, was sie da sahen – und da erst kehrte der Winter zurück, die Welt drehte sich weiter, der Säugling schrie nicht mehr, sondern schlief.
    Diese Geschichte wurde über Lena erzählt, und obwohl alle wussten, dass es Unsinn war und dass kein Schrei der Welt solches auszurichten im Stande war – so wenig, wie ein Blick eine Kuh zum Kalben bringen konnte –, erwartete man heimlich, dass Lena eines Tages wieder schreien und die Ordnung der Welt außer Kraft setzen würde. Dies fürchtete man, und es brachte ihr Bewunderung.
    Als Lena Samuel begegnete, war sie fünfzehn Jahre alt, ausgemergelt und innerlich vertrocknet, gleich so, als wäre sie zur Greisin geworden, noch ehe sie zum ersten Mal geblutet hatte. Es war nicht offensichtlich, ob alles in ihrem Körper recht funktionierte. Sie hatte ungeschnittene, verfilzte Haare, die bis zu den Kniekehlen reichten, und einen gewaltigen Buckel, der sie bereits in jugendlichen Jahren böse verzerrte und ihren Blick beharrlich nach unten lenkte.
    Wer sie nicht kannte, schob diesen Buckel einem schlimmen Schicksal zu; wer aber die Mär ihrer Geburt vernommen hatte, wusste, dass es ihre eigene Entscheidung sein musste, so durch die Welt zu laufen und nicht anders. Lena war vom Leben nicht verbogen. Sie befand sich auch nicht im Wettstreit mit ihm. Da ihr Schrei lauter war als das Knirschen und Rollern und Zuckeln der Weltenmaschine, nahm niemand an, dass einer freiwillig den ungleichen Kampf mit ihr aufnehmen würde.
    Dann kam der Tag, da sie Samuel traf.
    Lena wusste nicht, was Dreck war, weil sie nie etwas Sauberes gesehen hatte. In ihrem Leben gab es keine Entscheidung zwischen dem, was Reinheit versprach, und dem, was schmutzig machte, keine Entzweiung zwischen schön und hässlich, gut und böse, alt und jung. Ihr war alles eins. Sie war kräftig, konnte den Boden beackern wie ein Mann und Steine mit einer Hand heben, die andere nicht mal mit dem Fuß weiterzuschieben vermochten. Sie schlief traumlos, lechzte keiner fernen Zukunft entgegen und fand an nichts Gefallen. Das Einzige, was sie lieber tat als alles andere – was noch nicht bedeutete, dass sie es gerne tat –, war, zu spinnen, zu stricken, zu klöppeln und Stoffe einzufärben. Ob sie darin gut war, wusste man nicht. Eigentlich war sie in nichts wirklich gut. Es wäre auch nicht gerecht gewesen, wenn der liebe Herrgott ihr noch mehr Talente gegeben hätte, nachdem er den halbkrepierten Säugling bereits gegen sich hatte anschreien lassen und ihr später einen Blick gegeben hatte, der gebären ließ.
    An jenem Frühsommertag, da Lena auf Samuel traf, ging sie mit verdreckten Füßen über den Hof und spürte auch nicht den spitzesten Stein unter den dick verhornten Fußsohlen. Es war heiß, aber die Hitze legte sich gegen Abend. Lena stand mit ihresgleichen neben einem schwach lodernden Feuer, in dessen Asche Erdäpfel garten. Mit spitzen Stäben holte sie sie heraus und stopfte sie mitsamt der Schale in den hungrigen Mund. Lena aß nie etwas anderes als das Schwarzverbrannte, hinter dessen bitterer Haut sich mehlig-süßer Geschmack verbarg. Sie aß schnell, den neuen Bissen nehmend, bevor der vorige geschluckt war; eigentlich aß sie nicht, sondern würgte.
    Wenige Bauern bauten zu jener Zeit Erdäpfel an. Sie standen im Rufe, die Gesundheit zu schädigen, wiewohl manch ein Ratgeber herumging und meinte, man könne sie essen, wenn man sie in warmen Ställen oder Kellern vorkeimen ließe. Lena war das

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