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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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vor ihm hockte, nicht von ihm ließ und ihn anzubeißen drohte.
    »Bist du irr geworden?«, schrie er. »Fass mich nicht an!«
    Als sie nicht abließ, war er gezwungen, seinerseits nach ihrem Kopf zu greifen, ergriff sie an den Haaren und zog sie an diesen Haaren hoch zu sich. Jetzt erst sah er ihr Gesicht – und sie das seine.
    Samuel war der erste Mensch, bei dessen Füßen sie gekniet hatte, der erste Mensch, dessen Füße sie beweint hatte, und der erste Mensch, dessen Antlitz sie genau und eindringlich musterte, ohne dass er am Gebären war und man ihren glotzenden Blick zur Hilfe gerufen hatte.
    Erstaunt stellte sie fest, dass sein Gesicht so sauber war wie seine Füße, dass es gut war, ihn anzusehen, anstatt nur bucklig vor ihm zu hocken, dass er, obwohl er im Kuhmist geboren war, reinlich glänzte, was hieß, dass es einen Weg aus dem Kuhmist gab. Lena wollte den Mund öffnen, um ihre Freude darüber zu bekunden.
    »Geh weg da!«, keuchte Samuel. »Geh weg da!«
    Da vergaß sie, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen, sondern hielt ihn fest und klettete sich an ihn, sodass sie, wenn sie ihn schon nicht in sich hineinreden konnte, zumindest dies von ihm hatte. Sie war gierig auf ihn und stärker als er.
    Als sie noch ein Kind war, hatten sich die anderen vor ihr gefürchtet. Niemand wagte sie anzufassen, weil sie mit ihren zähen, sehnigen Armen jedermann zu erwürgen drohte. War sie wütend, sammelte sie spitze Steine und hieb so fest damit zu, dass sie manch einem beinahe das Auge ausgestochen hätte. Niemals aber hatte sie jemanden so stark umklammert wie Samuel.
    Sie rang mit ihm, hörte ihn keuchen und drückte ihn noch fester. Unmöglich war es ihm, sich zu wehren. Er musste ihre Berührungen über sich ergehen lassen und sich darein fügen, denn jedes Aufbegehren und Ringen nahm ihm den Atem und ließ ihn beinahe ersticken. Sie indessen schnappte, packte, kriegte ihn, und ihr Entschluss dazu war so unabdingbar, dass er vergaß, wie sehr er Berührungen hasste.
    Er gehörte ihr, mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren – bis sie ihn schließlich auf den Boden riss. Dann erschrak sie und ließ von ihm ab. Samuel hatte sich vor Schreck in die Hose gemacht – und schlimmer noch: Er lag in der braunen Erde, die das Blau der Jacke und das Weiß der Hose verfärbte, die durch seine Haare kroch und das bleiche Gesicht befleckte. Samuel war dreckig – und sie war es, die ihn dreckig gemacht hatte.
    Lenas Welt riss entzwei. Zuvor hatte sie keine Unterscheidung gekannt zwischen gut und böse, schön und hässlich, stark und schwach, Wahrheit und Lüge. Jetzt trennte die von ihr verdreckte Gestalt Samuels sich von der vorhergehenden sauberen und stimmte sie reuig. Sie wollte die Verschmutzung rückgängig machen. Sie wollte, dass Samuel sauber war – und sie mit ihm.
    Ihr jähes Aufheulen gab ihm Mut aufzustehen, nach ihr zu treten, auf sie einzubrüllen.
    »Weißt du nicht, dass ich Engel malen will?«, gellte er. »Man darf Engel nicht anfassen! Man darf sie nicht berühren! Du verfluchte Schlampe! Hau ab! Hau bloß ab du!«
    Immer noch verzweifelt flennend blickte sie auf die dreckigen Abdrücke auf seinem edlen Gewand und kauerte hilflos. Sein Atem wurde stiller und regelmäßig. Mit schwitzenden Händen hielt er Kohlestift und Papier fest.
    »Komm mir nicht wieder zu nahe!«, befahl er böse, trat ein letztes Mal nach ihrem verfilzten, grindigen Kopf und ging.
    Samuel floh vor ihr, aber Lena blieb stundenlang auf dem Boden liegen, auf dem er gestanden hatte, und konnte nicht genug davon bekommen, seine Fußspuren mit den Fingern nachzufühlen. Die Menschen, die sie dabei sahen, wunderten sich nicht. Es war bekannt, dass Lena niemals aufrecht stand und dass sie sich meist dem Boden entgegenkrümmte.
    Sie erweckte erst Erstaunen, als sie sich später aufrichtete, den Buckel gerade bog und obendrein begann, sich den Dreck von Gesicht, von Händen, von Beinen zu waschen, sich die verklebten Haare an den Schultern abzuschneiden und die spitzen Fingernägel abzuhacken.
    Grete wagte selten, Lena ins Gesicht zu schauen. Sie fürchtete deren Blick, der stark und mächtig und lebensspendend sein mochte – vielleicht aber auch gefährlich. Vielleicht konnte er in einem Moment so töten, wie er anderntags lebendig machte. Jetzt aber sah sie sie zögernd an – und seufzte erleichtert. Lenas Blick, der erstmals nicht den Boden oder ein gebärendes Wesen berührte, war ungefährlich. Er hatte sich an Samuel

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