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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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die Erstarrung, die Enttäuschung und die Verletzung der letzten Monate. »Warum sollte ich, wenn jedermann mich doch verachtet?«, stieß er hervor und kleidete seine Kränkung erstmals in Worte, stotternd und des Redens entwöhnt.
    »Auch mich verachtet man«, sagte Andreas. »Aber ich verdiene es – du nicht. Du bist der beste Maler. Du bist der Größere und Wichtigere.«
    Verlegen wich Samuel seinem Blick aus, wusste nichts mit dem merkwürdigen Vetter anzufangen und antwortete mit dem einzigen Mittel, das ihm bekannt war. Obwohl er es nie wieder tun wollte, begann er, Andreas’ Gesicht auf einem Bogen Papier festzuhalten, auf dass er seiner Herr und ihn so loswerden könne. Seine Hände zitterten. Er war ungeübt, weil er so lange keine Menschen mehr gemalt hatte. Dennoch fertigte er zügig eine lose Skizze an und hielt Andreas’ Gestalt fest.
    Samuel zeichnete den Vetter gebeugt, wie es jenem eigentümlich war – den Kopf gesenkt, die schmalen Schultern schlaff hängend, die spärlich behaarten, dünne Beine nach innen gekrümmt. Beinahe nackt war Andreas – nur sein Geschlecht war unter einem Tuch verborgen, das er mit beiden Händen schützend davor hielt.
    Doch Andreas war nicht die einzige Gestalt auf Samuels Bild. Ein weiterer Mann war darauf zu sehen – vollständig angekleidet und mit dem Rücken zum Betrachter gewandt, sodass sein Gesicht nicht zu sehen und seine Person nicht zu erahnen war. Wiewohl er mit gesenktem Kopf stand, war alles in Andreas auf diesen anderen ausgerichtet. Er beugte sich zu ihm hin und schielte von unten her zu ihm hinauf. Seine Schultern waren vorgeneigt, sodass er mühelos nach dem Manne greifen und ihn berühren könnte. Er aber tat es nicht. Es war ihm nicht möglich. Hätte er die Hände ausgestreckt, so hätte er mit dem Tuch sein Geschlecht nicht verbergen können.
    Achtlos ließ Samuel das Papier fallen, als wäre Andreas – kaum dass er ihn festgehalten hatte – nicht mehr wert, angeschaut zu werden. Jener bückte sich danach und sah einen, der sich vor Liebe verzehrte, aber zu feige war, die Liebe einzufordern. Sie begrenzte sich auf ein treues Ausharren. Sie war nicht stark genug, die Hände auszustrecken und sich über jenes Ehrgefühl hinwegzusetzen, welches sein Vater ihm eingeprügelt hatte.
    Die Wahrheit verschreckte Andreas nicht, sie war ihm altvertraut.
    »Hast mich gut getroffen«, meinte er zustimmend.
    Heischend wartete er und sah, wie die Totenstarre von Samuel abfiel. Er kehrte ins Leben zurück und tat es auf polternde und laute Weise. Unwirsch stampfte er mit dem Fuß auf, keuchte heftig und trat hasserfüllt auf den Vetter zu.
    »Du erschrickst und zitterst nicht?«, fragte er zornig. »Bin ich jetzt nicht einmal mehr gut genug, um Menschen zu malen?«
    Er vergaß sich, packte Andreas bei den Schultern und rüttelte ihn heftig. Geifer trat vor seinen Mund, und schreiend fühlte er, dass sein Körper vom langen Fasten geschwächt war. Er war hungrig. Er war zornig.
    »Lass mich los«, sagte Andreas. »Es wäre auch besser, du porträtiertest mich nicht. Widerspricht’s doch deinem Schwur, nur mehr Engel zu malen.«
    Samuel ließ die Hände sinken. Sie wurden ihm schwer und fanden nichts, wonach sie greifen konnten. Vor Hunger frierend presste er sie um seinen Körper.
    »Aber man will meine Engel nicht«, stieß er hervor. »Man erkennt meine Engel nicht, so wie sich die Menschen erkannten, als ich sie malte!«
    Andreas trat näher zu ihm, doch er achtete sorgfältig darauf, Abstand zu wahren. »Dann musst du Menschen suchen, die es tun. Du musst mit mir kommen«, sprach er eindringlich.
    Samuel starrte vor sich hin. »Ich will Engel so wahrhaftig malen, wie ich Menschen malte«, bekräftigte er den alten Schwur. »Ich will, dass man bei ihrem Anblick schreit, bebt, weint – ganz gleich, ob aus Freude oder Entsetzen, Hauptsache, man tut es! Ich will sie aufrütteln! Ich will ihnen zeigen, welch elendes, nichtsnutziges Pack sie im Vergleich zu den vollkommenen Geschöpfen der Lüfte sind!«
    Andreas verharrte gebückt und hielt die Entscheidung für besiegelt.
    »Hier erlaubt man dir nicht, es zu tun«, bestimmte er. »Man vertreibt dich, so wie ich ein Vertriebener bin. Wann brechen wir auf?«
    Als der Schnee schmolz und die Sonne wie aus leisem Gelb gemalt war, das Gott aus unreifen Pappelblüten presste, war die Zeit gekommen, da Samuel mit seinem Vetter Andreas das Elternhaus verließ. Er sollte als Lebender nicht wieder dorthin

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