Engelsblut
zurückkehren. Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden und ohne Lebwohl zu sagen; seine Schritte führten geradewegs zum eisernen Tor, kannten kein Zaudern und verrieten den endgültigen Abschied. Man sah ihm verwirrt und erleichtert nach – Graf Maximilian, seine zwei Söhne, seine Schwiegertochter Veronika. Selbst die dumpfe Marie beobachtete den Weggang, wiewohl sie nichts dabei dachte. Niemand rief ein Wort, um Samuel zum Bleiben zu bewegen.
Erst als auch die Magd Lena ihre Arbeit ruhen ließ, ihr Bündel packte und gleichfalls folgte, ohne zurückzublicken, da plärrte ihr die junge Gräfin Veronika ein herrisches: »Halt!«, nach.
Selten geschah es, dass Veronika laut wurde. Sie war die stumme, verschreckte Braut geblieben. Aber es weckte ihren Protest, dass sich ein anderer Mensch – nicht weniger Weib als sie und obendrein noch Magd – das Recht nahm, einen Willen zu haben. Veronika hielt sich an die Ordnung der Welt.
»Wie kann sie sich erlauben, einfach zu gehen?«, fragte sie streng, hastete Lena nach und hielt sie an den Röcken fest. »Du darfst ihm nicht einfach folgen! Du bleibst hier!«
Lena wandte sich zu ihr um, stand mit geradem Rücken und starrte Veronika wortlos an. Ihr Blick war stechend.
»Lass mich los!«, befahl die Magd der Herrin. »Du hast keine Macht über mich!«
Voll Unbehagen gab Veronika Lena frei, kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf. Der Blick auf die nackten, dreckigen Füße der anderen ermutigte sie jedoch, erneut zur Bestrafung anzusetzen. Von einer, die bloßfüßig ging, wollte sie sich nichts sagen lassen.
»Halt!«, bekräftigte sie. »Halt, du darfst nicht gehen!«
Schon trat sie wieder auf die Magd zu. Schon streckte sie die Hand nach ihr aus, um sie notfalls an den Haaren zurück zum Gutshof zu zerren.
Da stieß Lena einen Schrei aus – spitz und schrill und markerschütternd.
Erschrocken ließ Veronika die Hand sinken, zuckte zusammen und wollte einen Schritt zurückweichen. Anstatt jedoch mit ihrem Fuß sicher auf den Boden aufzusetzen, schien es keine Erde zu geben, die zu betreten war. Veronikas Fuß irrte suchend und haltlos durch die Luft. Sie strauchelte, kämpfte vergebens um ihr Gleichgewicht und fiel schließlich mit Rücken und Kopf in jenen Matsch, auf dem die andere sicher und bloßfüßig stand.
»Du hast keine Macht über mich!«, wiederholte Lena.
Veronika hatte nie von der seltsamen Mär gehört, wonach die Magd die Kraft habe, die Erde zum Stillstand zu bringen und die Jahreszeiten zu vertauschen. Aber als sie leise fluchend im Dreck lag, befiel sie eine Ahnung davon. Sie wagte es nicht, sich zu erheben, bis Lena sich abgewandt und ihres Weges gegangen war, auf dem niemand sie aufhalten konnte.
Atemlos näherte sie sich alsbald den beiden Männern, die den ersten Teil des Weges zurückgelegt hatten, und schrammte sich die Knie blutig, als sie Samuel vor die Füße fiel. Er beachtete sie nicht, sondern blieb stumm. Ebenfalls wortlos stand sie wieder auf, um ihnen zu folgen.
Nicht Gräfin Veronika, sondern der versoffene Alte bringt mich zu besagter Lena, und während er es tut, erzählt er dumme Geschichten. Er ist ein Blender, der behauptet, dass es außerordentlich mutig wäre, mich zu Lena zu geleiten. Mit jedem Wort, das seine Tapferkeit preist, schwindet die Neugierde, die mich vorhin packte.
Nein, ich will nichts von dem Elend wissen, das Gräfin Veronika gefangen hält! Nein, ich will zu keiner weiteren irren Alten geschleppt werden! Nein, ich will auch nicht hören, was dieser Idiot schwafelt – davon, dass niemand freiwillig zu Lena ginge, dass man ihn als Kind vor ihr gewarnt habe, dass man ihr eine Kraft nachsagte, wonach sie jeden mit dem bloßen Daumen zermalmen könne!
Diese Kraft sei geschwunden, als Samuel starb – aber den bösen Blick habe sie sich bewahrt.
»Gebt acht!«, raunt er. »Sie ist hinterhältig und gemein! Stellt sich harmlos, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun und ist doch eine Hexe! Man sagt, dass sie an Samuels Tod nicht unbeteiligt...«
»Still!«, zische ich hastig. »Ich will nichts davon hören! Wer sie ist, geht mich nichts an! Was sie zu erzählen hätte, bleibt besser ungesagt! Ich will das letzte Bild von Samuel Alt sehen, nichts weiter! Alles andere stimmt mich voreingenommen!«
Beleidigt zuckt der Alte mit den Schultern und wünscht mir lautlos den Tod durch das Weib, zu dem er mich bringt.
Der Rest vergeht schweigend, aber nicht weniger verdrießlich. Fast möchte
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