Engelsblut
dieser Zeit – es waren drei schweigende, finstere Monate – zog sich Samuel von den Menschen zurück. Er verließ seine Kammer nicht, brütete dumpf vor sich hin und war kaum bereit, etwas zu sich zu nehmen. Das Wasser, das man ihm zu trinken brachte, wurde faul. Das Essen ließ er verderben, bevor er es in einem Anflug von Ekel hinunterwürgte, um es mit gleichem Ekel wieder auszuspeien.
Samuel fastete – und er malte nicht mehr.
Wenn jemand kam, zeigte er sich als Blickloser. Er zog seine Kräfte vom Schauen ab und sparte sie auf für den Moment, da er überwunden haben würde, was ihm geschehen war. Er beabsichtigte zu erblinden – mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der sich Ludovicus Rottermann den Farben widersetzt hatte.
In den Gängen des Gutshofs wurde gemurmelt, er bezwecke mit seinem absonderlichen Verhalten den eigenen Tod. Ebenso wäre es möglich, dass er den Verstand verloren habe wie seine schwachsinnige Mutter Marie, die in einer eigenen Welt lebte und deren Grenzen bewachte. Beides wurde betuschelt, aber hingenommen. Es wäre nicht sonderlich schade um ihn. Es wäre ja nun bekannt, welch übler Verbrecher er sein könne, wenn man ihm nicht Einhalt gebot.
Man überließ ihn der Einsamkeit in den kargen Winterstunden, und man überließ ihn dem Wunsch, nicht mehr zu existieren. Erst als drei Monate vorüber waren und Samuel so abgemagert, dass er nicht aufrecht stehen konnte, regte sich Widerstand gegen sein Entsagen.
Lena kam zu ihm. Sie hatte auf seine Nähe verzichtet, um ihn nicht zu verstören und nicht zu verschmutzen, aber als sie erkannte, dass er ohne sie sterben würde, betrat sie sein Zimmer und schlich um ihn herum. Sie wusste nichts zu sagen, denn sie machte nicht gerne Worte. Sie wusste auch nicht, womit sie ihr Hiersein erklären sollte. Erst als er geschwächt den Kopf hob, um sie heiser anzufahren und zu vertreiben, nahm sie die Glasscherbe eines zu Boden gefallenen Kelches und ritzte sich damit die Hände wund und blutig. Er antwortete nicht darauf, wich ihrem Blick aus und hockte sich mit dem Gesicht zwischen den Knien auf den Boden – so hatte sie sich früher mit ihrem Buckel von der Welt ausgesperrt.
Lena blieb eine ganze Stunde, dann ging sie ratlos, um am nächsten Tag wiederzukehren. Ihre Hände eiterten und waren verbunden. Diesmal griff sie nicht wieder zu Glasscherben, um sich zu verletzten, sondern stellte sich so lange vor Samuel hin, bis er sie anschauen musste. Er tat es, weil sie es verlangte, aber er tat es so vorsichtig, dass es ihr nichts nutzte. Er versteckte seinen ausdruckslosen Blick. Damit brachte er zum Ausdruck, dass er nicht mehr leben würde – oder noch schlimmer: dass es ihn nicht mehr gebe und dass es ihn nie gegeben hätte.
Sie suchte Zuflucht in einsamer Arbeit, fühlte sich zerrissen von dem Verdacht, sie hätte auf einen Nichtseienden gesetzt. Nachdenklich verharrte sie, nach außen leblos wie er. Dann entschied sie, ihm das Aufhören nicht zu erlauben. Sie entschied, ihn wieder zum Leben zu erwecken, und ihr Wollen sollte stärker sein als seine Weltenflucht.
Samuel konnte hier nicht bleiben. Er musste gehen und sein Heim verlassen.
Als sie zum dritten Mal zu ihm kam, trat sie beherzt auf ihn zu, packte ihn an den Schultern und schrie ihm entgegen: »Steh auf und komm zurück! «
Sie spürte ihn unter ihrer Hand zusammenzucken, ließ ihn los, aber blieb danach stundenlang vor seiner verschlossenen Tür hocken.
Tage später folgte ein anderer ihrem leisen Befehl. Als der Frühling nahte, erschien Samuels Vetter Andreas von Hagenstein auf dem Gut von Altenbach-Wolfsberg und verlangte, nach Samuel zu sehen. Lena, die noch immer vor der verschlossenen Tür hockte, sah ihn kurz an und wählte ihn zum Verbündeten. Andreas war bescheiden, unterwürfig und schüchtern in seinem Gehabe. Und er war hartnäckig und ausdauernd in seiner Bewunderung für Samuel.
Lena verließ den Platz vor Samuels Kammer, trat zu Andreas und drängte ihn zum Handeln.
»Du musst Samuel von hier fort holen«, sagte sie, ohne seinen Namen und Rang zu kennen. »Du musst ihm die Welt zeigen und ihn zu Menschen bringen, die seine Malerei schätzen. Er stellt sich tot, aber er schläft nur.«
Bei Andreas von Hagensteins letztem Besuch hatte Samuel beschlossen, Engel zu malen, und ihn blutig geschlagen, ja beinahe erwürgt ob seiner tröstenden Berührung.
Danach hatte Andreas nicht mehr gewagt, zum Gutshof Altenbach-Wolfsberg zurückzukehren. Trostlos hatte er
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