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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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grimmig, aber seine Augen scharf, und seine Hände flogen begierig über den Skizzenblock – viel schneller, sicherer und gezielter als in den Wochen der Melancholie, während er sich mit seinen Engeln quälte.
    In einer knappen Stunde war das Bild vollendet, und er hob es hoch, um es nicht der Porträtierten, sondern dem Wirt entgegenzuhalten.
    Jener hatte bis zu diesem Augenblick nicht fassen können, was der seltsame Gast mit seinem noch seltsameren Anliegen bezwecken mochte. Nun sah er seine Frau. Er sah sie so, wie er sie vor zwanzig Jahren geheiratet hatte. Er sah sie mit der runzeligen Stirn, den zusammengekniffenen Augen, dem gefurchten Mund, der fort und fort verriet, dass dieses Leben Last und Mühe war und keine Freude, dass das Tagewerk Pflicht war und ihn des Nachts auf sich liegen zu lassen ebenso, dass es nichts gab, was sie jemals erhellen könnte. Zwanzig Jahre lang hatte er sie so gesehen – und an dem Entschluss, sie zur Frau zu nehmen, festgehalten. Sie war tüchtig, sie war ehrenwert, sie war fromm. Sie gehörte nicht zu den verderbten Frauen, die zwielichtige Straßen auf und ab stolzierten und mit Schönheit prahlten. Sie gehörte nicht zu jenen kecken Weibern, die ihre Locken zwischen den Fingern auf und ab gleiten ließen. Die Nachbarin tat das. Die Nachbarin hatte ihn angebetet, damals vor zwanzig Jahren; er hatte gedacht, es wäre schöner, dieses fröhliche, ungezwungene Mädchen zu heiraten, und er hatte sich dennoch für die bessere Mitgift und die anständigere Frau entschieden. Jetzt dachte er an die fröhliche Nachbarin, ließ das Bild fallen, schluchzte auf. »Was habe ich nur getan!«, jammerte er. »Was habe ich getan!«
    Schwerfällig kam seine Frau aus der Küche gekrochen. Griesgrämig keifte sie, er möge sein Maul halten, ein Nichtsnutz sei er, der seine Zeit vergeude, die doch da wäre, um zu arbeiten; anderes lohne sich nicht.
    Er starrte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Dann drehte er sich weg, um sie nie wieder anzublicken. Er nahm einen Humpen Wein, setzte ihn an die Lippen, trank, trank die ganze Nacht, schlief ein, trank weiter, schlief ein, trank weiter, immerzu, Tag für Tag, den Rest seines Lebens. Wenn er trank, verschwamm ihm das Eheweib vor den Augen; und wenn er schlief, träumte er von der lebensfrohen Nachbarin, die er als Braut ausgeschlagen hatte, weil sie ihn zu arm und zu wenig anständig deuchte.
    Verlegen starrte Andreas auf den zerstörten Mann.
    »Seht Ihr jetzt endlich, was mein Begehr ist?«, kroch es heiser aus Samuels Kehle, indessen er sich angewidert abwandte. »Solches möchte ich erreichen, wenn ich male! Die Menschen sollen alles, was sie denken, fühlen und wissen, vergessen und ein neues Leben beginnen!«
    Vorsichtig trat Andreas zu ihm und rang mit der Entscheidung, ob er dem anderen willig folgen oder Einwand erheben sollte. Zuletzt sah er keinen anderen Ausweg, als an Samuels hehrem Ziel zu rütteln.
    »Wäre es denn nicht ein Leichtes, dies alles zu erreichen, wenn du beim Porträtieren bliebest?«, wagte er schließlich schüchtern zu widersprechen. »Mag es nicht doch sein, dass du glücklicher wärst, würdest du Menschen malen?«
    Samuel blieb starr sitzen, doch der Blick, der Andreas traf, war gewalttätiger als jedes laute Aufbegehren und jeder Fausthieb.
    »Aber ich hasse die Menschen!«, bekräftigte Samuel bedrohlich seinen einstigen Schwur. »Ich hasse sie! Schau sie dir doch an! Es bereitet keine Freude, in ihre jämmerlichen Seelen zu gaffen und in den Tiefen ihres Wesens zu schürfen! Stehlen will ich’s ihnen nur, auf dass meine Engel Leben atmen! Für mehr taugt es nicht!«
    Nach diesem Tag blieb sein Gemüt lange Zeit bedrückt. Als sie Frankfurt erreichten, kehrte er sich erneut schimpfend gegen Andreas, als jener ihn mit Zuspruch ermuntern wollte.
    »Nichts habe ich erreicht in all den letzten Jahren«, fauchte Samuel ihn an. »Du bezahlst mein Leben – aber wenn du es nicht tun würdest: Könnte ich dann vom Malen leben? Würden Menschen meine Bilder kaufen? Nein! Sie sind so schlecht, dass sie in meiner Heimat gar verbrannt wurden!«
    Lena eilte Andreas zur Hilfe. »Sag das nicht!«, warf sie ein. »Man hat dich nicht erkannt!«
    »Gut«, antwortete Samuel. »Gut, dann wollen wir zusehen, ob man mich hier erkennt und wie weit ich ohne euch komme.«
    Am Marktplatz nahe dem Mainufer stellte er am nächsten Tage die Bilder aus, die er in den letzten Monaten mit Lenas und Andreas’ Blut gemalt hatte. Niemand

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