Engelsblut
Frage: »Aber Ihr – Ihr vermögt selbst nicht zu malen?«
Doktor Simon Grothusen lächelte beschwichtigend. »Mein Talent ist das Wort, nicht das Bild«, erklärte er.
»Aber wie kommt es dann, dass Ihr die Kunst liebt?«, drängte Samuel.
»Das tut jetzt und hier nichts zur Sache«, erklärte Grothusen, schwieg hernach, als reiche dies zur Erklärung, und legte den letzten Teil der Wegstrecke unerwartet stumm zurück. Beim Gasthof Adler blieb er stehen und schob Samuel, der plötzlich zögerte, durch die Türe.
»Hinein, hinein!«, drängte er ihn in eine Welt, die Samuel bis dahin nicht kannte.
Er hatte stets allein gemalt, denn seinesgleichen gab es nicht, woher er kam. Ein Ludovicus Rottermann war ihm zwar Lehrmeister gewesen, hatte ihm aber nur die Farben geschenkt, niemals mit ihm gemeinsam Bilder gefertigt.
Im Gasthof Adler zu Cronberg jedoch galt es, sich das Leben durch Bilder einzuverleiben – und später, wenn es Abend wurde, durch Wein, Gesang und Ausgelassenheit. Kein förmliches, steifes Beisammensein erwartete sie, keine gemächliche Wirtsstube, in die sich zufällig und nebenher auch Künstler mischten. Es grüßte stattdessen eine stolze, bunte Versammlung von Männern und einigen wenigen Frauen, die sich im Sommer leisteten, was das Jahr über die Regeln des städtischen Studiums verbaten.
Dicht stand die dunstige Luft; es roch nach Schweiß, Apfelwein und billigem Essen. Gestalten reckten sich, um die Eintretenden zu mustern, mit einem Humpen Bier zu begrüßen und zwanglos zum Gespräch zurückzukehren, ohne Doktor Simon Grothusen große Beachtung zu schenken.
Es gab kaum Stühle im Wirtshaus Adler. Ein jeder hatte sein Kissen mitgebracht, um darauf im Schneidersitz zu hocken. Statt Tischen war in der Mitte des Raumes ein Leinen aufgespannt, worauf neben Apfelwein und Bier, Rippchen, Kartoffeln mit grüner Soße und Pfannkuchen standen. Lena war die Erste, die sich aufs Essen stürzte. Andreas tat es ihr gleich. Nur Samuel aß nichts. Steif verharrte er neben Doktor Grothusen, eingeschüchtert von dem, was es zu schauen gab. Um die Leinentücher scharte sich eine laute, schillernde und grelle Menge. Manche trugen wallende Barte und Haare; andere waren mit bunten Gewändern bekleidet. Einer rauchte aus gurgelnder Wasserpfeife, während sich sein Nachbar mit einem Pfauenschweif Luft zufächelte. Mitten unter ihnen stand ein Nackter, dessen Gliedmaßen eben abgemessen wurden. »Woran«, warf ein Künstler, der von dem Nackten eine Skizze fertigte, Samuel zu, »woran lässt sich das Malen auch besser lernen als am Körper, den uns Gott geschenkt hat?«
Er lachte girrend über Samuels Verwirrung, wohingegen Andreas errötete, als er den Nackten erblickte, rasch die Augen mit den Händen bedeckte und hoffte, man würde ihm seine Scham nicht ansehen.
»Komm«, raunte er Samuel hilflos zu, »komm, wir müssen fort von hier. Dieser Ort ist verderbt! Es ist nicht rechtens, dass man sich nackt entkleidet! Es ist gegen alle Sitten!«
Als Samuel sich nicht rührte, wagte er gar, zuzufassen und ihn am Ärmel zu zupften. Samuel riss sich mürrisch los.
»Halt den Mund!«, befahl er unwirsch. »Sieh nicht hin, wenn dir graut!«
Hastig duckte sich Andreas in eine Ecke.
»He! Du da!«, plärrte indessen ein anderer durch den dunstigen Raum. »Ja, dich, Simon Grothusen, dich meine ich! Wen hast du uns heute mitgebracht? Sind wir dir für deine nimmersatte Liebe nicht genug?«
Einer, der näher bei Samuel stand, stieß ihn direkt an. »Könnt mich nicht erinnern, dich schon einmal in Frankfurt gesehen zu haben. Lass mich raten, woher du kommst: München, Düsseldorf, vielleicht sogar Paris?«
»Nein!«, kam eine Stimme aus dem Halbschatten. »Nein, vielleicht hat Doktor Grothusen endlich einen aus Barbizon entdeckt, wo man das Landleben schon viel länger mit Bildern einfängt als hierzulande?«
Samuel duckte sich verschreckt unter dem lauten Lachen. Es setzte ihm zu wie der Geruch des durchgefeierten Abends, und er hielt nach Lena und Andreas Ausschau – auf sein übliches Widerstreben gegen sie vergessend.
Simon Grothusen indessen blieb ruhig und griff lächelnd in seine Tasche, um eine lange, spitze Zigarre zu entzünden und daran zu ziehen.
»Ihr mögt mich auslachen, weil ich so treu an eurer Seite verharre und eure Liebe zur Kunst teile – wenn auch auf andere Weise«, setzte er an. »Doch wenn ihr eure sommerlichen Werke zu Geld machen wollt, so werdet ihr auf mich nicht verzichten
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