Engelsblut
den Sommer über längst aus Frankfurt zurück – vor allem, seitdem die Stadt so laut und lärmend ist. Man mag die verzauberten schmalen Gässchen von früher kaum mehr hier finden, nicht die Schatten der Ulmen, nicht das Vogelgezwitscher an den Hauswänden...«
»Wer seid Ihr?«, stieß Samuel hervor, vergaß, sein Gesicht zu reiben und Lena dafür zu strafen, dass sie ihn geschlagen hatte.
Der Fremde ließ sich nicht unterbrechen. »Ich habe Eure Bilder gesehen und vermag mit meinen bescheidenen Kenntnissen zu bekunden, dass Ihr Talent habt. Euer Stil scheint mir von den städtischen Akademien nicht glatt gewalzt und dem Einheitsbrei des Üblichen einverleibt zu sein. So meine ich, Ihr würdet Euch im Kreis jener Künstler wohler fühlen, die sich zur lichten Jahreszeit außerhalb der Stadt sammeln und sich dort weit über die Schulen ihrer Zeit erheben...«
Samuel schwieg verwirrt.
Der Fremde lächelte unablässig.
»Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mich begleiten«, erklärte er, »in gewisser Weise gehöre ich zu ihnen. Ich bin ein Freund und Förderer aller Künstler, denn Kunst ist das Schönste und Wahrste und Reinste, was es auf dieser vermaledeiten Welt gibt.«
Lockend hob er seine Hand. »Im Übrigen, da Ihr mich fragtet: Mein Name ist Doktor Simon Grothusen. Ich bin ein Kaufmann in artibus, ein Kunsthändler, und ich gedenke, der größte meiner Zunft zu werden.«
Zögernd widersetzte sich Samuel dem Fremden, blieb misstrauisch stehen, als jener ihm beherzt vorausschritt, und wollte sich nicht kampflos dem fremden Willen beugen.
Hinter ihm begannen die anderen zu rumoren. »Wir sind gut ohne Euch zurechtgekommen«, murrte Lena in Richtung des Mannes, der nun Namen und Beruf besaß. Sie hatte die Fassung wieder gefunden, vergessen, dass die fremde Hand kräftiger war als die eigene, aber sich wieder beschämt erinnert, dass sie Samuel ins Gesicht geschlagen hatte.
»Wir haben Euch nicht um Hilfe gebeten«, sekundierte Andreas flüsternd.
Hierauf schüttelte Samuel seinen Grimm und seine Verwirrung ab, löste sich ruckartig von dem Boden, auf dem er stand, und folgte Doktor Simon Grothusen, ohne sich nach Lena und Andreas umzusehen. Erst als er bei ihm angelangt war und an seiner Seite ging, sprach er nachlässig über seine Schulter: »Worauf wartet ihr? Oder glaubt ihr, ihr könntet entscheiden, welchen Weg ich gehe und was ich aus meinem Leben zu machen gedenke?«
Drei Stunden währte ihr Fußweg von Frankfurt. Er führte an Niederhöchstadt vorbei, am Neuenhain mit den drei Linden, ließ in der Ferne Mammolshain und Falkenstein erkennen und brachte sie schließlich nach Cronberg. Jeder Schritt führte tiefer in ein Land, das einfältig, aber friedlich, bescheiden, aber fruchtbar war. Blühende, saftige Obsthaine säumten den Weg in ein entlegenes Taunusdörfchen, wohin keine Spuren der lauten Stadt reichten. Dort reihten sich unter dem Schatten des hohen Kastanienwaldes, der weitästigen Maulbeerbäume und der Schlossgiebel der Burg kleine Gasthäuser und einfache Bauernhöfe. Kuhwagen mit dem Pfuhlfass rollten den schmalen Weg entlang. Die Bauersleute, die darauf hockten, starrten unberührt an Grothusen und seinen Begleitern vorbei und gingen ihrem Tagwerk nach, ohne Neugierde zu zeigen. Am Stadtplatz plätscherte ein schmiedeeiserner Marktbrunnen; von der Apotheke Neubronner flogen Tauben hoch. »Er verschickt auf diese Weise Rezepte«, erklärte Grothusen.
Er sprach unverwandt und berichtete ausführlich von den Cronberger Künstlern – Studenten der Städelschule, die den Sommer im kleinen Dörfchen zubrachten, bunt und lebenslustig und einer Malerei frönend, die hier keine Vorgaben fand, nur gemächliches Landleben. Jeder konnte sich sein Motiv suchen, ohne einen strengen Professor im Nacken zu haben; jeder konnte die Natur malen, ohne an die Historienmalerei gebunden zu sein. In Cronberg beschritt die bildende Kunst neue Pfade – und er, Grothusen, der er in Frankfurt eine Galerie unterhielt, wollte jene Pfade ausbauen und erweitern.
»Denn ich liebe die Kunst«, schloss er.
Samuel schwieg während des anstrengenden Gangs und zeigte sich müde von der Wärme des ausgehenden Frühlingsnachmittags. Nicht vollends hatte er sich entschieden, dem Doktor dankbar zu sein, weil jener die schmähliche Nacht im Zuchthaus und Lenas Ohrfeige vergessen machte. Nur dass Andreas und Lena misstrauisch hinter ihnen trotteten, stimmte versöhnlich.
Nach der letzten Steigung stellte er seine erste
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