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Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Titel: Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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paralysiert starrte sie in das Schubfach mit den Stiften und Briefumschlägen, zwischen denen sie den Ring deponiert hatte. Die Stifte waren noch da, ebenso wie das Bündel Dollarnoten für Notfälle. Der Ring allerdings war verschwunden.
    „Fehlt etwas?“, fragte der Officer.
    Er klang jetzt viel freundlicher als zuvor. Eve schoss durch den Kopf, dass sie vom potentiellen Täter offenbar zum Opfer aufgestiegen war. Benommen ließ sie sich auf das Sofa fallen.
    „Wie ein gewöhnlicher Einbruch sieht das aber nicht aus.“ Martinez hob die Geldscheine hoch.
    Eve hatte eine Eingebung. „Die Pistole ist weg“, sagte sie, und musste die Müdigkeit in ihrer Stimme nicht vortäuschen.

    Hinter dem Broadway veränderte sich die Gegend. Die alten Hochhäuser wichen Industriebaracken und heruntergekommenen Wohnvierteln. Alan kreuzte den Hollywood Freeway, die Gleisanlagen der Union Station und bog schließlich in die Main Street, eine wenig befahrene Straße, die gesäumt war von Lagerhäusern und Containerplätzen.
    Hinter einer Unterführung bog er auf das Gelände einer ehemaligen Brauerei, die sich über die Jahre in eine Künstlerkolonie verwandelt hatte. Er parkte seinen Dodge unter einer Pferdeskulptur aus Plastikschläuchen und Stahl, stieg aus und blieb einen Moment in der Sonne stehen. Der Himmel war strahlend blau, die Luft klar. Aus einem geöffneten Fenster wehte Kaffeeduft. Er glaubte, das Klappern von Geschirr zu hören und leise Stimmen. Gelächter. Er liebte dieses Refugium, diese Gemeinschaft von Verrückten und Introvertierten, ein paar Revolutionären und ein oder zwei wirklichen Visionären. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er jede freie Minute hier verbracht hatte. Bis sein Bedürfnis, sich von der Welt zurückzuziehen, auch diesen Ort kontaminiert hatte.
    Der Friede sank in ihn ein, Blätter rieben aneinander, Efeu an Ziegelwänden. Die Sonne wärmte sein Gesicht. Alan erklomm die Stufen zu einer Rampe. Er war wütend gewesen, als er hierher aufgebrochen war. Nun blieb die Wut in den Zweigen hängen, im Efeu, zwischen rostigen Geländern und buntem Glas. Alan lief einen dämmrigen Korridor hinunter bis in ein Atrium, groß wie eine Reithalle und drei Stockwerke hoch. Die Werkstatt befand sich am äußersten Ende der Halle, ein Loft, das mit einem Rolltor verschlossen war. Ein Fenster im Obergeschoss stand offen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.
    Er konnte den anderen spüren und gab sich keine Mühe, seinen eigenen Geist abzuschirmen.
    „Hey Pascal!“, rief er hinauf. Seine Stimme hallte von den Betonwänden zurück. „Pascal, mach auf!“
    Irgendwo riss ein Motorgeräusch ab. Ein Riegel sprang auf. Das Tor glitt zur Seite und gab den Weg frei in ein Atelier voller Maschinen, deren Zweck sich nicht auf den ersten Blick offenbarte.
    „Pascal“, sagte Alan. Seine Kehle verengte sich. Der Mann überragte ihn um fast einen Kopf. Sein Körper wirkte knochig und mager, aber Alan wusste, wie viel Kraft darin steckte. Kastanienbraunes Haar, von grauen Strähnen durchzogen, war zu einem Zopf gebunden.
    „Alain Schattenherz“, sagte Pascal.
    Er betrachtete Alan, wie man einen Geliebten ansieht, der nach langer Zeit zurückkehrt. Dann endlich breitete er die Arme aus und zog ihn an sich. Das Gefühl von Verlust wurde übermächtig. Und all der aufgestaute Schmerz, alle Einsamkeit, alle Schuld überfluteten Alan wie ein Strom, der einen Damm durchbricht.
    „Mein Bruder“, sagte Pascal. „Dachtest du, ich schmeiße dich raus, nachdem du endlich zurückgefunden hast?“
    „Ich bin nicht dein Bruder“, gab Alan zurück.
    „Gott sei Dank bist du’s nicht.“ Pascal lachte. „Nichts gegen dich, ich bin nur froh, dass dieser Bastard nicht mein Vater ist. Aber ich fühle für dich, als wärst du mein Bruder.“ Er wurde wieder ernst. „Das weißt du, Alan. Nicht wahr?“ Sie saßen draußen auf der Terrasse auf dem Holzboden, so wie sie es früher getan hatten. Es roch nach Maschinenöl und verbranntem Metall. „Wie ist es dir ergangen?“
    Alan dachte über eine Antwort nach und erkannte, dass er sie nicht geben konnte. Was sollte er erwidern? Dass er Frieden gefunden hatte? Einen trügerischen, zerbrechlichen Frieden, der unter der ersten Belastung splitterte? Ein bitteres Aroma sammelte sich in seiner Kehle. Plötzlich schmeckte es wie Verrat. Wie ein selbstsüchtiger, gedankenloser Treuebruch.
    „Fünfzehn Jahre“, sagte er.
    „Fünfzehn Jahre“, wiederholte Pascal. In

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