Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
mir doch etwas. Was passiert, wenn …«
»Es ist besser, wenn du diese Leben nicht siehst, Luce. Es ist eine Seite von ihm …«
»Es ist eine Seite von ihm, die mich liebt, nicht wahr? Selbst wenn sie dunkel oder schlecht oder verstörend ist, muss ich sie sehen. Sonst werde ich nicht wirklich verstehen, was er durchmacht.«
Bill seufzte. »Du siehst mich so an, als brauchtest du meine Erlaubnis. Deine Vergangenheit gehört dir.«
Luce war schon auf den Beinen. Sie sah sich auf dem Friedhof um, bis ihr Blick auf einen kleinen Schatten hinter ihrem Grabstein fiel. Da. Das ist der Richtige. Luce war verblüfft über ihre Gewissheit. Das war ihr noch nie passiert.
Auf den ersten Blick hatte dieser Schatten genauso ausgesehen wie alle anderen Schatten, die sie unbeholfen im Wald der Shoreline School heraufbeschworen hatte. Aber diesmal konnte Luce irgendetwas in dem Schatten selbst sehen. Es war kein Bild, das ein spezielles Ziel darstellte, sondern viel mehr ein seltsamer silbriger Schimmer, der anzudeuten schien, dass dieser Verkünder sie dort hinbringen würde, wo ihre Seele als Nächstes hingehen musste.
Er rief nach ihr.
Sie antwortete, ging in sich und bediente sich des Schimmers, um den Schatten vom Boden aufsteigen zu lassen.
Das Stück Dunkelheit löste sich von dem weißen Schnee und nahm Gestalt an, während es sich ihr näherte. Er war von einem tiefen Schwarz, kälter als der fallende Schnee, und er rauschte auf Luce zu wie ein riesiger, dunkler Bogen Papier. Ihre Finger waren rissig und taub von der Kälte, als sie den Verkünder zu einer größeren, kontrollierten Form auseinanderzog. Er stieß aus seinem Inneren den vertrauten Schwall widerlich riechenden Windes aus. Das Portal war breit und stabil, ehe Luce bewusst wurde, dass sie außer Atem war.
»Du wirst dabei langsam wirklich gut«, bemerkte Bill. Seine Stimme hatte einen seltsamen scharfen Unterton, auf dessen Analyse Luce jedoch keine Zeit verschwendete.
Sie verschwendete auch keine Zeit darauf, stolz auf sich zu sein – obwohl ihr irgendwie bewusst war, dass Miles oder Shelby, wären sie hier gewesen, in diesem Augenblick Purzelbäume geschlagen hätten. Es war mit Abstand die beste Beschwörung, die sie bisher allein zustande gebracht hatte.
Aber die beiden waren nicht hier. Luce war allein, also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu dem nächsten Leben weiterzugehen, Lucinda und Daniel noch länger zu beobachten und alles in sich aufzunehmen, bis etwas anfing, einen Sinn zu ergeben. Sie befühlte die klebrigen Ränder nach einem Riegel oder Türknauf, nach einem Weg hinein. Schließlich öffnete sich der Verkünder mit einem Knarren.
Luce holte tief Luft. Dann drehte sie sich zu Bill um. »Kommst du jetzt mit oder nicht?«
Mit ernstem Gesichtsausdruck hüpfte er auf ihre Schulter und packte ihr Revers wie die Zügel eines Pferdes, und so schritten die beiden hindurch.
Lhasa, Tibet, 30. April 1740
Luce schnappte nach Luft.
Sie war aus der Dunkelheit des Verkünders in einen Wirbel schnell heraufziehenden Nebels geraten. Die Luft war dünn und kalt und jeder Atemzug stach ihr in der Brust. Sie schien nicht normal atmen zu können. Der kühle weiße Dunst des Nebels wehte ihr das Haar aus dem Gesicht, kroch ihr in die Ärmel, durchnässte ihre Kleidung mit Tau und war dann verschwunden.
Luce stellte fest, dass sie am Rand der höchsten Felswand stand, die sie je gesehen hatte. Sie schwankte und taumelte rückwärts, ihr wurde schwindelig, als sie sah, wie ihre Füße einen Stein lostraten. Er rollte ein Stückchen vor und über den Rand und stürzte endlos in die Tiefe.
Sie schnappte nochmals nach Luft, diesmal aus Höhenangst.
»Und atmen«, instruierte Bill sie. »Hier oben werden mehr Leute ohnmächtig, weil sie Panik haben, sie bekämen nicht genug Sauerstoff, und nicht weil sie tatsächlich nicht genug Sauerstoff bekommen.«
Luce atmete vorsichtig ein. Das war ein klein wenig besser. Sie ließ den schmutzigen Nerz von den Schultern gleiten und genoss die Sonne auf dem Gesicht. Aber die Aussicht machte ihr noch immer zu schaffen.
Von dem Felsvorsprung, auf dem sie stand, blickte sie über ein weites Tal, das hier und da von Ackerland und gefluteten Reisfeldern durchsetzt zu sein schien. Und zu beiden Seiten erhoben sich zwei gewaltige Berge in neblige Höhen.
Weit vor ihr, direkt in einen der steilen Berghänge ge hauen, befand sich ein ehrfurchtgebietender Palast. Majestä tisch weiß und von dunkelroten Dächern
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