Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
würdest was?«
Luce bewegte sich auf das Grab zu und blieb vor der losen Erde stehen, wo ihre Grabstelle begann. Ein Sarg lag darunter.
Ihr Sarg.
Bei dem Gedanken überlief sie ein Schauder. Sie ließ sich auf die Knie sinken und legte die Hände auf die Erde. Sie war feucht und dunkel und eiskalt. Luce grub die Hände hinein und hatte sofort das Gefühl, dass ihre Finger zu Eis wurden, doch es kümmerte sie nicht, sie hieß das Brennen willkommen. Sie hatte sich gewünscht, dass Daniel dies tat, dass er nach ihrem Körper in der Erde tastete. Dass er sie zurückwollte, lebendig und in seinen Armen, und darüber verrückt wurde.
Aber er schlief einfach, schlief so fest, dass er nicht einmal spürte, dass sie direkt neben ihm kniete. Sie wollte ihn berühren, ihn wecken, aber sie wusste nicht, was sie sagen könnte, wenn er die Augen öffnete.
Stattdessen wühlte sie in der schmutzigen Erde, bis die so behutsam abgelegten Blumen darauf zerstreut und zerfetzt waren, bis der schöne Nerzmantel besudelt war und ihre Arme und ihr Gesicht vor Dreck starrten. Sie grub und grub und warf die Erde beiseite, gelangte immer tiefer in die Erde zu ihrem toten Ich. Sie sehnte sich nach irgendeiner Form von Verbindung.
Endlich trafen ihre Finger auf etwas Hartes. Den Holzdeckel des Sarges. Sie schloss die Augen und wartete auf die Art von Blitz, die sie in Moskau gespürt hatte, die Explosion von Erinnerungen, die sie durchflutet hatten, als sie das Tor der verlassenen Kirche berührt und Luschkas Leben gefühlt hatte.
Nichts.
Nur Leere. Einsamkeit. Ein heulender weißer Wind.
Und Daniel, schlafend und unerreichbar.
Sie hockte sich auf die Fersen und schluchzte. Sie wusste nichts über das Mädchen, das gestorben war, rein gar nichts. Sie hatte das Gefühl, dass sie niemals etwas über sie wissen würde.
»Juhu«, sagte Bill leise von ihrer Schulter aus. »Du weißt, dass du nicht da drin bist?«
»Was?«
»Denk doch mal drüber nach. Du bist nicht da drin. Du bist inzwischen ein Häufchen Asche, wenn überhaupt. Es gab von dir keinen Körper zum Begraben, Luce.«
»Wegen des Feuers. Oh. Aber warum …?«, fragte sie, dann brach sie ab. »Meine Familie wollte es.«
»Sie sind strenge Lutheraner.« Bill nickte. »Seit hundert Jahren hat jeder Müller einen Grabstein auf diesem Friedhof. Also auch dein früheres Ich. Es liegt bloß nichts darunter. Oder fast nichts. Dein Lieblingskleid. Eine Puppe aus deiner Kindheit. Deine Bibel. So was in der Art.«
Luce schluckte. Kein Wunder, dass sie sich innerlich so leer fühlte. »Also hat Daniel – deshalb hat er das Grab nicht angesehen.«
»Er ist der Einzige, der akzeptiert, dass deine Seele woanders ist. Er ist geblieben, weil er die Erinnerung an dich nirgendwo näher als hier bewahren kann.« Bill beugte sich so dicht über Daniel, dass das Schwirren seiner steinernen Flügel Daniels Haar zerzauste. Luce hätte Bill beinahe zur Seite gestoßen. »Er wird versuchen zu schlafen, bis deine Seele sich woanders niedergelassen hat. Bis du deine nächste Inkarnation gefunden hast.«
»Wie lange dauert das?«
»Manchmal Sekunden, manchmal Jahre. Aber er wird nicht jahrelang schlafen. So gern er das wahrscheinlich tun würde.«
Als Daniel sich bewegte, machte Luce einen Satz.
Er regte sich unter seiner Decke aus Schnee. Ein gequältes Stöhnen kam von seinen Lippen.
»Was passiert?«, fragte Luce, ließ sich auf die Knie nieder und streckte die Hand nach ihm aus.
»Nicht aufwecken!«, sagte Bill hastig. »Er wird im Schlaf von Albträumen geplagt, aber es ist besser für ihn, als wach zu sein. Bis deine Seele sich in einem neuen Leben niedergelassen hat, ist Daniels ganzes Dasein eine Art von Folter.«
Luce war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Daniels Schmerz zu lindern, und dem Versuch zu verstehen, dass sie diesen Schmerz vielleicht nur verschlimmern würde, wenn sie ihn weckte.
»Wie ich schon sagte, gelegentlich leidet er unter einer Art Schlaflosigkeit … und dann wird es wirklich interessant. Aber das würdest du nicht sehen wollen. Ganz bestimmt nicht.«
»Doch«, widersprach sie und richtete sich auf. »Was passiert dann?«
Bills fleischige Wangen zuckten, als sei er bei etwas erwischt worden. »Nun, ähm, die anderen gefallenen Engel sind sehr oft in der Nähe«, antwortete er, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Sie kommen her und, na ja, versuchen, ihn zu trösten.«
»Ich habe sie in Moskau gesehen. Aber davon redest du gar nicht. Du verschweigst
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