Engelsgesicht
hätte. Sie verstärkte seine Kopfschmerzen noch. Er konnte sie einfach nicht mehr hören und hätte einiges gegeben, wenn die Laute verschwinden würden. Seine Lage wurde ihm wieder deutlicher bewusst.
Auf seinem Gesicht und eigentlich auf dem gesamten Körper klebte der Schweiß. Der Pfarrer stellte sich immer stärker die Frage, weshalb man ihn in die freie Natur gelegt hatte. Die andere Seite, zu der auch seine Tochter gehörte, musste mit ihm etwas vorhaben.
Er stand den anderen im Weg. Er war gewissermaßen ein Zeuge und sehr unbequem.
Der Pfarrer wusste aus Krimis, was mit unbequemen Zeugen geschah. Man liquidierte sie. Sie wurden getötet. Aus dem Weg geschafft. So konnte er sich vorstellen, dass sein Schicksal ebenso aussah.
Aber die eigene Tochter?
Immer wieder kam ihm der Gedanke an Silvia. Er konnte und wollte nicht glauben, dass sie daran teilnahm. Warum auch? Welchen Grund sollte es für sie geben? Das war der reine Wahnsinn. Warum sollte eine Tochter ihren eigenen Vater töten?
Gut, es hatte zwischen ihnen hin und wieder Auseinandersetzungen gegeben, aber das war normal. Das passierte in anderen Familien ebenfalls, nicht nur ihm. Wenn Silvia so reagierte, dann musste es einfach andere Gründe geben, die viel tiefer lagen und auch vielschichtiger waren. Er musste sich jetzt eingestehen, dass er das Leben seiner Tochter kaum kannte. Irgendwo hatte er das Gleiche schon einmal mit seiner Frau erlebt.
Es veränderte sich etwas. Lintock hörte es. Andere Geräusche wehten zu ihm herüber. Er glaubte, Stimmen gehört zu haben, und wenig später vernahm er auch den Klang eines Motors.
Es war kein Auto, das sich seiner Stelle näherte. Diesen Klang kannte er sehr gut. So fuhr ein Motorroller, und wahrscheinlich wurde er von seiner Tochter gelenkt. Das Knattern kam ihm bekannt vor. Es hätte ihn auch gewundert, wenn sie nicht gekommen wäre.
Lintock blieb liegen. Spannung stieg in ihm auf. Sein Herz klopfte schneller.
Der Motor des Rollers verstummte. Es wurde wieder still. Aber der Motor war in seiner Nähe zur Ruhe gekommen. Beim Aufrichten hätte er das Fahrzeug sicherlich sehen können. Der Pfarrer blieb trotzdem liegen. Es würde zu Veränderungen kommen, das stand für ihn fest. Ohne Grund hatte man ihn hier nicht in der freien Natur liegen lassen.
Jemand kam. Die Schritte im Gras klangen beim Aufsetzen dumpf, und das Geräusch nahm etwas zu, als die Person seine Nähe erreichte und Sekunden danach stehen blieb.
Von oben her schaute sie auf den liegenden Mann hinab. Der Pfarrer blickte hoch – und sah das Gesicht seiner Tochter!
Er hatte ja damit gerechnet. Trotzdem war es für ihn eine Überraschung, denn bis zum jetzigen Zeitpunkt hatte er es eigentlich nicht so recht akzeptieren können. Irgendwie fühlte er sich verraten und so verdammt allein gelassen.
Silvia lächelte. Es gefiel ihrem Vater nicht. Es war das Lächeln einer Teufelin. Es war so kalt und auch gemein. Silvia wirkte auf ihn wie eine Fremde, aber er schaffte es einfach nicht, diese Person zu hassen.
»So sieht man sich wieder, Vater...«
Auch diese Worte stießen ihn ab. So sprach man nicht mit einem nahen Verwandten, doch damit hatte eine wie Silvia keine Probleme mehr. Sie war einen anderen Weg gegangen. Da brauchte er nur in ihr Gesicht zu sehen, in dem die Augen gefüllt mit einem Fanatismus waren, den er nicht verstand.
Es war nicht einfach für Lintock zu sprechen. Der Hals war trocken. Er räusperte sich, und erst dann gelang es ihm, einige Worte zu sagen. »Was ist nur aus dir geworden, Kind? Was...?«
»Hör auf, Vater. Hör auf mit deiner verkorksten Moral. Fang hier nicht an zu predigen. Du stehst nicht auf einer Kanzel, von der du auf zahlreiche Idioten schaust.«
»Das kannst du nicht sagen, Silvia«, flüsterte er, entsetzt über ihre Antwort.
Silvia nickte gelassen. »Doch, Vater, ich kann. Ich kann es wirklich. Du wirst es erleben. Ich bin einen anderen Weg gegangen. Du hättest auf deinem bleiben sollen und mich nicht daran hindern sollen. So haben sich unsere Wege gekreuzt. Genau das ist dein Fehler gewesen. Neugierde ist nie gut. Ich und meine Freundinnen werden nicht mehr zu einer Umkehr bereit sein.«
»Was ist nur in euch gefahren? Was tut ihr? Warum habt ihr euch abgewendet vom Antlitz Gottes?«
»Hör auf!«, schrie Silvia und trat wütend mit dem rechten Fuß auf. »Ich habe es nie gesehen. Ich will es auch nicht sehen. Es gibt andere Dinge, die wichtiger sind.«
»Meinst du?«
»Davon bin
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