Engelsgesicht
er wieder aus der Tiefe empor, als wären Hände dabei, ihn nach oben zu drücken.
Auf keinen Fall ging es ihm besser. Die Realität war rau und zudem mit Schmerzen angefüllt. Die Angst empfand er als eine Botschaft. Im Kopf breitete sich ein Gefühl aus, das er in seinem bisherigen Leben noch nicht erlebt hatte. Es war ein gewaltiger Druck, in den hinein immer wieder die Speerspitzen der Schmerzen zuckten. Aber er konnte atmen und auch stöhnen. Er hörte sich selbst zu und versuchte dabei, wieder in die normale Welt einzutauchen und sich dort zurechtzufinden.
Trotz der Schmerzen funktionierten sein Verstand und auch seine Gefühle, der Tastsinn eingeschlossen. Als erstes bewegte er seinen rechten Arm.
Nein, das ging nicht. Da war der Wunsch mehr der Vater des Gedankens. Den Arm bekam er nicht zur Seite gedrückt. Er blieb – ebenso wie der linke – auf seinem Bauch liegen, was natürlich einen Grund hatte. Ihm waren die Hände auf dem Bauch gefesselt worden.
Es war eine Tatsache, leider kein Irrtum. Auch wenn dies nur intervallweise in sein Bewusstsein hineindrang. Man hatte ihn im Haus niedergeschlagen, danach gefesselt und anschließend irgendwohin gefahren.
Aber wohin?
Es gehörte zu den Eigenschaften des Pfarrers, auch in extremen Situationen nicht so schnell die Nerven zu verlieren. Das war auch hier der Fall. Er schaffte es, ruhig nachzudenken. Da tauchte das Bild seiner Tochter auf. Was er in ihrem Zimmer erlebt und auch durchlitten hatte, lief noch einmal vor seinem geistigen Auge ab. Lintock musste zugeben, dass er dabei nur zweiter Sieger geblieben war. Silvia hatte gewonnen, und sie hatte sich eiskalt gegen ihren Vater gestellt.
Das zu wissen, bedrückte ihn. Es machte ihn traurig, und er konnte sich auch nicht vorstellen, weshalb sie so reagiert hatte. Es musste mit ihrem neuen Leben zusammenhängen und auch mit dem, was ihrer Freundin Diana Crane widerfahren war.
Schnitte im Gesicht. Schnitte am Körper. All dies hatte sich auf der Haut sehr deutlich abgezeichnet. Eine Selbstverstümmelung, für die der Pfarrer, dem das Leben heilig war, kein Verständnis aufbringen konnte.
Aber es war geschehen, und er musste sich damit abfinden. Er wusste, dass das Leben nicht immer so ablief wie man es sich wünschte. Das war ihm zwar schon immer klar gewesen, mit dieser Deutlichkeit aber hatte er es zuvor noch nie erfahren. Zudem war sein ureigenster persönlicher und familiärer Bereich davon betroffen.
Die Hände hatte man ihm vor dem Körper zusammengebunden. Es verstand sich, dass auch seine Fußknöchel gefesselt waren. Besondere Fesseln, wie auch an den Händen. Kein Draht, auch kein Band. Dafür dicke Klebestreifen, die man auch um Pakete drückte, um dort Lücken zu schließen.
Er lag auf dem Rücken. Er spürte den Wind. Er roch das Gras. Er nahm den Duft der Blumen auf. Er wurde von weichem Wind gestreichelt und hatte dabei das Gefühl, den Staub der Blüten auf den Lippen zu spüren. Noch flogen die Pollen, auch wenn es so warm wie im Hochsommer war. Deshalb hatte man ihn auch nach draußen geschafft.
Bisher hatte der Pfarrer seine Augen geschlossen gehalten, weil er sich zunächst mit all seinen Sinnen auf das Erwachen hatte konzentrieren wollen.
Nun öffnete er die Augen.
Viel zu sehen war nicht. Über ihm malte sich das Bild aus Ästen ab. Er selbst lag am Rand einer Wiese. Die Sonne schien bereits wieder, er musste zum Glück nicht hineinschauen, und er hörte jetzt einen bestimmten Laut, der gleich blieb. Es war das Plätschern von Wasser. In der Nähe rann es entlang, und für den Mann gab es nur eine Erklärung. Er wusste jetzt, dass man ihn in die Nähe des Bachs geschafft hatte. Auch dort standen Bäume. Wenn auch nicht so dicht, sodass sie einen Wald hätten bilden können.
Er schaute nur nach oben gegen das Geäst. Rechts und links wurde ihm der Blick von den Grashalmen genommen, die ständig gegen seine Haut kitzelten.
Ich liege auf einer Weise nahe des Bachs, dachte er. Und man hat mich gefesselt. Es ist also keine Idylle. Und es gibt Menschen, die mich in diese Lage gebracht haben.
Als er daran dachte, spürte er weitere Schmerzen. Die neuen waren seelischer Art, weil er daran dachte, dass seine eigene Tochter daran beteiligt gewesen war.
Sein Fleisch und Blut. Ein Mensch, dem er immer sehr nahe gestanden hatte. Warum diese Kehrtwendung? Warum stellte sie sich gegen den eigenen Vater?
Er bekam auch das Summen der Insekten mit, doch es war keine Musik, die ihn beruhigt
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