Engelsgrab
als Hirngespinst ab. Auf dem Weg zum Hafen von North Shields sagte ihm sein Instinkt, dass da etwas Größeres im Gang war. Dass es mit ihm zu tun haben könnte, wäre ihm nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen.
Er parkte in einer dunklen Seitenstraße, stieg aus, wartete und dachte daran, wie weit er sich für das Wenige an Information aus dem Fenster gelehnt hatte. Im Grunde wusste er nur, dass zwei verfeindete Drogendealer ihren Gebietsanspruch klären wollten. Schließlich erkannte er die beiden Männer, die ihren Wagen verließen und auf einander zugingen. Er verständigte Conrad über Funk, schilderte die Lage, und ehe er wusste, wie ihm geschah, hatte er eine Kugel im Schenkel, haarscharf an seinen Weichteilen vorbei. Zuerst kam der Schock, dann der Schmerz. Er spürte etwas Klebrig-Warmes, das über seine zusammengekniffenen Hinterbacken lief. Für einen schrecklichen Augenblick dachte er, er hätte seinen Darm entleert, und war erleichtert, als er feststellte, dass es Blut war. Dem Himmel sei Dank, war das Einzige, was ihm durch den Kopf ging. Dann konnte im Revier nachher wenigstens keiner behaupten, er hätte sich vor Angst in die Hose gemacht, denn den Ruf wurde man sein Leben lang nicht mehr los.
Reagieren konnte er nicht mehr, dazu war es zu spät, denn hinter ihm fuhr mit quietschenden Reifen ein Wagen los. Die Waffe wurde nie gefunden. Aber wahrscheinlich wäre sie ohnehin nicht registriert gewesen, sondern eine Leihgabe irgendeines Kriminellen, an die jeder herankommen konnte, wenn er sich die Mühe machte. Augenzeugen gab es keine, was Brady nicht verwunderte, denn der Schuss war spätabends am Hafen von North Shields gefallen. Diejenigen, die dort vielleicht herumgelungert hatten, hätten wahrscheinlich selbst geschossen, wenn sie jemanden von der Polizei erkannt hätten.
Die zentrale Ermittlungsbehörde ordnete eine umfangreiche Untersuchung an, schließlich war einer ihrer Detectives angeschossen worden, und sie mussten zumindest so tun, als seien sie außer sich vor Empörung. Vor der Presse stellten sie sich wie ein Mann hinter Brady, doch später wurde ihm vertraulich mitgeteilt, er habe wieder einmal gegen die Regeln verstoßen und die geplante Drogenrazzia versiebt. Die Schusswunde sei nur der Beweis, dass er zu viel riskiere, deshalb sei es lediglich eine Frage der Zeit, ehe er oder einer seiner Männer verletzt werde oder sterbe.
Zu guter Letzt verbreitete sich die Geschichte, Brady sei von ein paar hiesigen Drogendealern angegriffen worden. Demzufolge wurden auch keine Beweise gefunden, und der Fall kam zu den Akten. Ob seine Tarnung aufgeflogen war, wusste Brady noch immer nicht. Ihm war nur klar, dass er in seinem Leben etlichen Leuten in die Quere gekommen war und jeder von ihnen der Schütze sein konnte.
Brady kehrte zur Gegenwart zurück, sah vor sich das besorgte Gesicht des Sergeant und rang sich ein Lächeln ab.
»Schauen Sie nicht so. Ich bin ja noch nicht tot.«
Turner musterte ihn skeptisch. »Sind Sie sicher, dass Sie schon wieder fit genug sind?«
»Jedenfalls behauptet das unser Arzt, und Sie wissen doch, was für ein Korinthenkacker der ist.«
»Tja dann. Aber trotzdem sollten Sie mal ordentlich essen. Sie brauchen ein bisschen Farbe im Gesicht.«
»Danke für den Rat, Charlie.« Brady wandte sich zu Conrad um. »Haben Sie’s gehört? Ich soll essen. Na dann, nichts wie los.« Brady steuerte den Ausgang an.
Kopfschüttelnd sah Turner zu, wie Brady mit Conrad im Gefolge nach draußen verschwand.
»Passen Sie gut auf sich auf, Jack«, murmelte er. Conrad drehte sich um und fing Turners Blick auf.
Kapitel 7
»Sir«, begann Conrad unruhig. »Die Besprechung fängt gleich an.«
»Locker bleiben.« Brady schob seinen leeren Teller zur Seite. »Sonst machen Sie mich nervös.«
Gleichmütig betrachtete er seinen Stellvertreter, dem wahrscheinlich alles lieber gewesen wäre, als hier in der Kantine zu sitzen, die sich im Keller des Polizeireviers befand. Es war ja auch kein schöner Ort, und die flackernden Neonleuchten an der Decke trugen noch dazu bei. Aber Brady hielt sich gern hier unten auf. Er mochte den Geruch nach fettigem gebratenem Essen, den billigen bitteren Kaffee, die laminierten roten Tische aus den Sechzigerjahren, die Risse in den Fensterscheiben und die lächerlichen Eisenstangen, die die Fenster von außen schützten, als würde jemals einer in ein Polizeirevier einbrechen wollen. Vor den Fenstern hing das trübe Licht des verregneten
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