Engelsgrab
aber bei Matthews hielt er das für ausgeschlossen. Wie Brady war er in einer gnadenlosen Umgebung aufgewachsen. Bei Brady war es das Armenviertel von Ridges gewesen, bei Matthews Benwell, die Stadt, in der seit jeher Bandenkriege tobten. Nur mithilfe ihrer Fäuste und ihres Instinkts hatten sie es geschafft zu überleben. Auch glaubten sie beide nicht, die Polizei könne in den Ridges und Benwells dieser Welt etwas ändern. Nur die gröbsten Auswüchse, die wollten sie eindämmen.
In seiner Dienstzeit in Wallsend und dem West End von Newcastle hatte Brady mit zahllosen Mordfällen zu tun gehabt, aber keiner hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er führte es auf seine Kindheit zurück, die weit härter als das Milieu von Benwell gewesen war und ihn für den Polizeidienst gerüstet hatte.
Noch einmal schaute er zu den vergitterten Fenstern hinüber, durch die graues Tageslicht drang, und dachte an Matthews, der in einem Punkt doch anders war als er. Er selbst würde es nie weiter als zum Detective Inspector bringen, aber Matthews war rücksichtslos. Ebenso wie Conrad hatte er das Zeug zum Chief Superintendent, wenn auch aus anderen Gründen.
»Ich muss los«, entschuldigte sich Brady und stand auf. Er wollte Matthews suchen.
Im Sitzen war sein Bein steif geworden, und er musste sich auf den Tisch stützen.
»Sag Conrad, dass ich später zu dem Treffen komme.«
»Kein Problem. Es findet unten im Konferenzraum statt. Da werden auch die Beweismittel zusammengetragen. Punkt halb neun fangen wir an. Das heißt, du hast noch eine Viertelstunde.«
Brady richtete sich auf. Sein Bein brannte wie Feuer, und mit der Zeit hatte er es noch nie sehr genau genommen.
»Du weißt, dass wir alles getan haben, um den Pisser zu erwischen, der dich angeschossen hat«, fuhr Harvey fort. »Vor allem Conrad hat sich ins Zeug gelegt. Es gab Tage, da hat er zwei Schichten hintereinander geschoben.«
»Conrad ist in Ordnung.« Brady warf einen Blick zu seinem Stellvertreter hinüber.
Kapitel 8
»Wie siehst du denn aus?«, sagte Brady zu Matthews, als er in sein Büro kam.
Brady hatte damit gerechnet, Matthews dort vorzufinden, denn genau das hätte er in seiner Situation getan. Doch sein Aussehen brachte ihn aus dem Tritt, denn Matthews war kalkweiß, und seine Augen wirkten fiebrig.
Brady humpelte zu seinem Schreibtischsessel und setzte sich. Allem Anschein nach hatte Matthews sich bereits an der Flasche Glenfiddich bedient, die er für Notfälle in der Schreibtischschublade hatte.
Brady deutete auf die Flasche. »Noch einen?«
Matthews nickte teilnahmslos.
Brady goss ihm großzügig ein, schnappte sich einen zweiten Becher, dachte daran, sich auch einen Schluck zu genehmigen, und überlegte es sich anders. Gleich am ersten Tag im Dienst zu trinken wäre unklug gewesen.
Dankbar stürzte Matthews den Malt hinunter, stöhnte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Schließlich zwang er sich, Brady in die Augen zu schauen. Sein Blick erinnerte Brady an den eines räudigen Hundes, der spürt, dass er zum Tode verurteilt ist.
»Ich sitze tief in der Scheiße«, begann er schließlich mit unsteter Stimme.
Brady lehnte sich zurück und wartete.
»Ich – ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
Bradys Magen begann gegen das fettige Frühstück zu revoltieren.
»Ich habe sie… gekannt, weißt du«, stammelte Matthews und schüttelte den Kopf.
»Wen?«, fragte Brady und wusste nicht, ob er die Antwort hören wollte.
»Das Mädchen – die Kleine, die …« Matthew verstummte.
»Das ist doch nicht dein Ernst.«
Brady räusperte sich, während er darauf wartete, dass Matthews zustimmte.
»Jimmy? Na komm schon, Mann.«
»Meinst du nicht, ich sollte das am besten wissen?«
»Woher willst du denn wissen, ob du sie gekannt hast? Da war doch überhaupt kein Gesicht mehr vorhanden.«
Matthews sah zu Boden.
Brady fluchte in sich hinein.
»Verdammt noch mal, Jimmy, weißt du überhaupt, was du da sagst?«
»Was ist denn das für eine Frage? Hältst du mich für schwachsinnig?«
»Willst du darauf eine ehrliche Antwort haben?«
Brady versuchte zu erfassen, was genau Matthews ihm mitteilen wollte. Aber das machte keinen Sinn. Überhaupt keinen Sinn.
Matthews starrte Brady an und holte Luft. »Ich habe sie gestern Abend nach Hause gefahren.«
»Du hast was?«, fragte Brady entgeistert.
Gleich darauf kam ihm der Gedanke, dass Matthews mit der Frau im Bett gewesen sein musste oder zumindest die Absicht gehabt hatte. Er
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