Engelsgrab
ein heimliches Stelldichein. Brady hörte, dass Conrad rastlos von einem Fuß auf den anderen trat. Anscheinend hatte er genug gesehen und wollte weg. Sein aschfahles Gesicht sprach Bände.
Damit muss er leben, dachte Brady. Und es wird noch nicht das Schlimmste sein, das er jemals sehen wird. Besser, er begreift jetzt schon, wozu der Mensch in der Lage ist. Man malt sich eine Gräueltat aus, glaubt nicht, dass sie möglich ist, und schon hat sie jemand verübt. Zehn Mal, wenn es sein muss.
Der Glaube an eine zivilisierte Gesellschaft war ein Witz. Nein, schlimmer, er lullte die Menschen ein und vermittelte ihnen ein falsches Gefühl der Sicherheit. Für Brady waren Menschen Tiere in Kleidung. Tiere, die vergewaltigten, Kinder schändeten, die quälten, folterten und mordeten, ganz gleich, wer ihnen in die Fänge kam. Das Wort »Gesellschaft« war ihnen nicht einmal ein Begriff. All das hatte er gesehen, gerochen und täglich erfahren. Für ihn war die Welt ein dunkler Ort, auch wenn andere sich weigerten, sie so zu sehen, und sich vormachten, sie lebten in einer Zivilisation.
Zu denen gehörte auch Conrad. Er war noch immer einer jener bedauernswerten Idealisten. Aber bald würde die Arbeit ihn eines Besseren belehren und ihm seine Illusionen rauben. So war es ihm, Brady, schließlich auch ergangen, wie jedem anderen in diesem Job, dem einen früher, dem anderen später.
»Wir fahren zum Revier«, erklärte er. »Dieser Ort deprimiert mich.«
Je früher sie anfingen, desto schneller konnten sie die Fährte des Mörders aufnehmen. In der Regel waren die ersten Stunden ausschlaggebend. Der Gedanke, dass der Täter sich aus dem Staub machen würde, war Brady unerträglich.
»Wer war eigentlich hier, um den Tod zu bescheinigen?«
»Ich glaube, es war Wolfe, Sir.«
Wenigstens etwas, dachte Brady, denn er schätzte Wolfe, einen zänkischen alten Mediziner, der zu viel trank, aber sein Handwerk verstand. Der beste Pathologe, den sie jemals gehabt hatten und der ihnen hoffentlich noch eine Weile erhalten blieb, ehe er sich in den vorzeitigen Ruhestand soff. Noch einmal warf er einen Blick auf die Tote. In der Gerichtsmedizin würde sie bei Wolfe in guten Händen sein, selbst wenn es ihr nichts mehr nützte.
Kapitel 6
Es war immer noch kalt und dunkel. Darüber hinaus hatte leichter Nieselregen eingesetzt. Wie immer, dachte Brady und schlug die Tür von Conrads metallicsilbernem Saab zu. Durch die schwere, feuchte Salzluft hörte er in der Ferne ein Nebelhorn tuten, sog noch einmal an seinem Zigarettenstummel und warf ihn fort. Die sechste an diesem Morgen. So viel zum Thema, nicht mehr zu rauchen. Er zog die Lederjacke enger um sich und schaute durch das verhangene Licht der Straßenlampen über die dicht an dicht geparkten Wagen vor dem Revier. Offenbar hatte Gates jeden Beamten einberufen, ganz gleich, ob er Dienst hatte oder beurlaubt war. Langsam humpelte Brady auf die ausgetretenen Treppenstufen zu und kickte eine leere Bierdose zur Seite. Ein einziger Saustall, dachte er und sah zu, wie die Dose auf eine zerbrochene Wodkaflasche traf, beide Hinterlassenschaften einer Donnerstagnacht in Whitley Bay. Hinter ihm fuhr Conrad auf der Suche nach einer Parklücke wieder mit dem Saab los.
Nach einem Blick auf die Treppe und die schwere hölzerne Eingangstür entschied Brady, den einfacheren Weg über die Rampe zu nehmen, eine neue Vorrichtung, um sich der Bevölkerung als politisch korrekt anzubiedern. Soweit Brady wusste, war sie bislang nur einziges Mal benutzt worden, an dem Tag, als sie einen betrunkenen Rollstuhlfahrer wegen unsittlichen Verhaltens festgenommen hatten. Die hämischen Zeilen, mit denen die Presse über Gates hergefallen war, kursierten noch immer als Witze im Revier. Zum Glück wusste Gates nicht, dass Brady die Nachricht spaßeshalber hatte durchsickern lassen. Für Gates war das damals ein harter Schlag gewesen. Er hielt sich für den Inbegriff politischer Korrektheit, und die Presse hatte ihn zum Feind aller Rollstuhlfahrer im Nordosten Englands erklärt. Hätte Gates auch nur geahnt, dass Brady dahintersteckte, wäre dessen Karriere längst zu Ende gewesen.
Brady holte tief Luft und stieß das Holztor auf. Es öffnete sich zu der im viktorianischen Stil gefliesten Eingangshalle des Reviers. An dem Anschlagbrett hing der übliche Schrott. Die Luft war feucht und roch säuerlich. Alles deprimierend wie immer, genau wie der Job.
Das alte Gebäude lag an einer Seitenstraße, die von dem
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