Engelsgrab
wirkte tief erschüttert.«
»Sind Sie sicher?«
»Stellen Sie meine Urteilskraft infrage?«
»Nein«, antwortete Brady. »Oder vielleicht doch.«
»Oder wollten Sie etwas anderes hören?«
»Im Gegenteil«, antwortete Brady. »So und nicht anders hatte ich es erwartet.«
Kapitel 21
Wenn ein Kind ermordet wird, kommen zuerst die Eltern als Täter in Betracht. Also hatte Brady sich zum zweiten Mal in wenigen Stunden zum Haus der Simmons aufgemacht. Diesmal nahm er Conrad mit.
Sie saßen im Wohnzimmer. Es war erst zwei Uhr nachmittags, doch Louise Simmons umklammerte mit zitternden Händen ein Glas Gin Tonic. Den Drink konnte Brady ihr nicht verdenken, denn den brauchte sie zweifellos. Es war wohl auch nicht ihr erster, denn ihre blauen Augen wirkten glasig, ihr Gesicht war eingefallen, und um den zusammengepressten Mund hatten sich scharfe Falten gegraben, als wäre sie in den letzten Stunden auf unerbittliche Weise gealtert.
Drückende Stille herrschte im Raum, und Brady wäre am liebsten aufgesprungen, um die schweren roten Vorhänge aufzuziehen. Nicht einmal das Licht der großen Tiffanylampe auf der antiken Anrichte schaffte es, den düsteren Raum zu durchdringen. Ebenso wenig wie das zischende und spuckende Kohlefeuer in dem edwardianischen Kamin die Kälte vertrieb.
Brady betrachtete das blank polierte Parkett und die alte Truhe vor ihm, die als Couchtisch diente. Auf der Truhe drei ordentlich aufgereihte Bücher. Ein Werk über die Impressionisten, daneben eins über zeitgenössische Kunst, das dritte über Art déco. Gleich daneben eine handgearbeitete Schale, kunstvoll mit exotischen Früchten gefüllt. Vorsichtig und ohne das Arrangement zu stören, stellte Brady seine Kaffeetasse auf der Truhe ab. Inzwischen wusste er, dass Louise Simmons in einer privaten Mädchenschule Kunst unterrichtete. Die Schule lag in Jesmond, einer begehrten teuren Wohngegend, zwei Meilen vom Stadtzentrum von Newcastle entfernt und sieben Meilen landeinwärts von Whitley Bay. Brady nahm es als Erklärung für die Bücher und die mannigfaltigen Kunstwerke, die ihm auf dem Flur und im Wohnzimmer ins Auge gefallen waren.
Paul Simmons arbeitete als IT-Manager in einem Software-Unternehmen in Newcastle und bestätigte Bradys Ansicht über die Menschen in dieser Branche, die er allesamt für kalt, verbohrt und introvertiert hielt. Für einen Moment fragte er sich, was Louise Simmons je in ihrem Mann gesehen hatte? Oder worin überhaupt ihre Gemeinsamkeiten bestehen konnten. Vielleicht hatte sie seine Kälte als Selbstbewusstsein missverstanden und begriff erst allmählich, wie viel Egozentrik darin lag.
Bradys Blick fiel auf das Ölgemälde über dem Kamin. Es zeigte die King-Edwards-Bucht. Um ein Haar hätte er Louise Simmons darauf angesprochen.
Nach seinem Dafürhalten handelte es sich um eine hervorragende Kopie des Gemäldes von R. W. Reaveley, einem Künstler aus Tynemouth, der 1891 begonnen hatte, Bilder des Meeres und der Landschaft ihrer Umgebung zu malen. Wie Brady sich zu erinnern glaubte, befand sich das Original im Besitz eines Privatsammlers, denn hätte es über dem Kamin gehangen, hätten die Simmons ein Vermögen dafür gezahlt.
Er wandte sich Paul Simmons zu, der angespannt und mit geballten Fäusten am Erkerfenster stand und jede Bewegung Bradys mit feindseligem Blick verfolgte. Dass Brady wiedergekommen war, schien ihm nicht zu passen. Wie er anfangs bemerkt hatte, wäre ihm nur Jimmy Matthews als Ermittler willkommen gewesen.
»Sie sitzen hier einfach so«, brach es plötzlich aus ihm heraus. »Ich hätte doch gedacht, dass Sie unterwegs sind, um den Verantwortlichen für diesen Mord zu suchen.«
»Wir tun, was wir können«, entgegnete Brady ruhig.
»Ach wirklich? Ich weiß nur, dass Sie Sophies Zimmer auf den Kopf gestellt und ein einziges Durcheinander angerichtet haben.«
»Alles kommt wieder dahin, wo es war«, versprach Brady. »Ich selbst werde dafür sorgen.«
»Das ist ja wohl das Mindeste«, gab Simmons zurück.
Kopfschüttelnd lauschte er den polternden Schritten, die über die Wendeltreppe im Flur nach unten kamen. Dann öffnete er den Vorhang einen Spaltbreit und sah zu, wie Polizisten verpackte und versiegelte Computer aus dem Haus zu ihrem Streifenwagen trugen.
»Das sind meine Computer!«, fuhr Simmons herum. »Die brauche ich für meine Arbeit! Darauf befinden sich vertrauliche Dokumente, die wahrscheinlich einer Ihrer Polizeitrottel zerstören wird. Und wann bekomme ich die
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