Engelsgrab
an.
»Gehen Sie nach oben«, sagte seine Frau leise. »Da sind Sie ungestört.«
Brady lief hinaus in den Flur und meldete sich.
Kapitel 22
»Na, endlich! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, begrüßte Wolfe ihn schnaufend.
»Ich war beschäftigt«, entschuldigte sich Brady.
»Da sind Sie nicht der Einzige«, erwiderte Wolfe und fing an zu husten.
Brady wartete, bis sich der Hustenanfall legte. Wolfe litt zwar an Asthma, aber das war nicht der Grund für sein Husten und Schnaufen. Der Gerichtsmediziner rauchte, trank und aß zu viel. All das hatte ihm mindestens dreißig Kilo Übergewicht und Kurzatmigkeit eingebracht, aber trotzdem war er nicht gewillt, eines seiner Laster aufzugeben.
»Was haben Sie denn für mich?«, fragte Brady.
»Noch gar nichts. Um halb vier bin ich fertig. Wenn Sie wollen, treffen wir uns nachher an der üblichen Stelle. Aber bitte ohne Ihren Helferich. Wenn ich den Jungen sehe, kriege ich Magenkrämpfe.« Wolfe legte auf.
Conrad und Wolfe waren noch nie miteinander klargekommen. Wolfe war der beste Pathologe, den man sich denken konnte, aber jeder wusste, dass er trank. In der Regel begann er damit beim Mittagessen und machte mitunter weiter bis zum nächsten Morgen. Seine Kondition war die eines Nilpferdes, denn bei der Arbeit wirkte er ausnahmslos nüchtern. Wie er das schaffte, war Brady unbegreiflich. Selbst Chief Superintendent O’Donnell wusste Bescheid, doch er sah darüber hinweg, wohl wissend, dass Wolfe als Gerichtspathologe unschlagbar war.
Conrad dagegen sträubten sich die Haare, wenn Wolfe sein Mittagessen verschlang, Biere hinunterkippte, als wären sie Wasser, und ihnen währenddessen seine Befunde mitteilte. Jedes für sich hätte Conrad schon gereicht, aber alles zusammen war mehr, als er verkraften konnte.
Brady trat an das Fenster am Ende des oberen Flurs. Unter ihm erstreckte sich der hintere Garten der Simmons. Dahinter begannen die Felder des alten Bauernhofs. Durch die Bäume und Sträucher waren die Mauerreste kaum zu erkennen, doch hier und da blitzten die weißen Overalls der Spurensicherer auf. Seufzend wandte er sich ab. Sein Blick fiel auf zwei geöffnete Türen. Hinter der einen lag das Elternschlafzimmer, hinter der anderen das Zimmer eines jungen Mädchens. Sophies Zimmer. Eine süßliche Mischung aus Parfum und Deodorant schlug ihm aus diesem Raum entgegen, wie eine letzte Erinnerung an das, was einmal Sophie Washington gewesen war.
Brady hatte sich vor ein paar Minuten damit entschuldigt, dass er einen Anruf annehmen müsse. Er wollte bei seinem Gespräch mit Wolfe allein sein. Und so hatte er zufällig Sophies Zimmer entdeckt, in dem das übliche Chaos eines Teenagers herrschte. An den Wänden hingen Poster von Musikgruppen, deren Gesichter und Namen Brady nichts sagten. Ich werde alt, dachte er und ließ seinen Blick über den umherstehenden Schnickschnack gleiten. Auf dem Bett lagen Anziehsachen, auf einem Schränkchen drängten sich Make-up, Parfumflaschen, Nagellack, Schmuck, und auf dem Boden verteilten sich CDs. Die Tür zu dem begehbaren Kleiderschrank stand sperrangelweit offen und enthüllte ein wildes Durcheinander von Schuhen, Pullovern und Röcken. Selbst der große Spiegel in der Ecke war mit Kleidungsstücken zugehängt, andere lagen darunter auf dem Boden. Aus all dem schloss Brady, dass Sophie Washington am letzten Tag ihres Lebens nicht vorgehabt hatte, still in ihrem Zimmer zu sitzen und zu büffeln.
Der große Flachbildfernseher an der Wand wunderte ihn nicht, ebenso wenig wie die anderen ultramodernen elektronischen Geräte, die überall herumlagen. Sophie war schließlich ein Einzelkind gewesen, dessen Vater sich umgebracht hatte. Ihre Mutter war wieder verheiratet, womöglich mit einem Mann, den Sophie nicht mochte. Vielleicht hatte der Raum deshalb einen gewissen Beigeschmack, als hätte ein Elternteil sich schuldig gefühlt und der andere Sophies Zuneigung mit all den teuren Gegenständen erkaufen wollen.
Brady hinkte zu der vollen Pinnwand über dem leeren Computertisch, an die ein buntes Mosaik verschieden großer Farbfotos gesteckt war. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass die meisten von ihnen Sophie Washington zeigten. Allerdings sah er auf keinem das unschuldige Mädchen, das ihre Eltern geschildert hatten. Auch dem Schulfoto, das unten am Kühlschrank hing, ähnelten die hier in keiner Weise.
Auf diesen Fotos war Sophie stark geschminkt und trug knappe Kleidung. Selbst für eine
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