Engelsgrube - Almstädt, E: Engelsgrube
der Fensterfront waren heruntergelassen und die Fenster gekippt. Trotzdem zeigte das Thermometer 28 Grad an. Ein kleiner Tischventilator zwischen den Aktenstapeln brachte einzelne Zettel zum Flattern. Während sie noch überlegte, ob sie heute zum Essen in die Kantine gehen sollte, steckte ihr Kollege Conrad Wohlert den Kopf zur Tür herein.
»Hey, Pia. Broders lässt fragen, ob du mal eben zu ihm rüberkommen kannst. Er macht gerade eine Vernehmung …«
Pia loggte sich aus dem Programm aus, in dem sie gearbeitet hatte. »Sind alle anderen schon zum Essen, oder warumbin ich gefragt?« Skeptisch blickte sie ihren Kollegen an. Es war allgemein bekannt, dass sie und Hauptkommissar Broders nicht gerade in bestem Einvernehmen zueinander standen.
Conrad Wohlert antwortete, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen: »Keine Ahnung. Er hat ausdrücklich nach dir verlangt. Ich muss jetzt weg nach Kücknitz. Also bis später …«
Pia war misstrauisch. Seit ihrem ersten Tag in dieser Abteilung, und der lag nun schon ein gutes halbes Jahr zurück, machte Heinz Broders ihr das Leben schwer. Es verging kaum ein Tag im Kommissariat, an dem Broders nicht die eine oder andere boshafte Bemerkung von sich gab. Auch die anderen Kollegen schienen ständig auf der Hut vor ihm zu sein. Pia hatte jedoch das Gefühl, dass ihre Anwesenheit ihn geradezu herausforderte. In den vergangenen Monaten hatte er jedenfalls strikt vermieden, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Broders Büro lag am anderen Ende des Ganges. Er teilte es mit Kriminalhauptkommissar Kürschner. Wilfried Kürschner war der dienstälteste Kollege in der Abteilung. Er vertrat zur Zeit den in Urlaub gegangenen Leiter des Kommissariats, Kriminalrat Gabler.
Die Bürotür war nur angelehnt, und Pia trat ein. Zwei Personen befanden sich im Raum. Heinz Broders, der hemdsärmelig und verschwitzt hinter seinem Schreibtisch hockte, und ein ihr unbekannter Mann, der mit dem Rücken zur Tür saß. Als er Pia eintreten hörte, drehte er sich langsam um. Pia ertappte sich dabei, wie sie ihn verwundert anstarrte. Gegen Broders biederen Aufzug sah der Mann geradezu exotisch aus. Zuerst fielen die langen braungrauen Haare auf, die im Nacken von einem Lederband zusammengehalten wurden. Er trug ein Holzfällerhemd, eine Lederweste,Jeans und klobige Stiefel. Seine Gesichtszüge schienen merkwürdig unproportioniert zu sein. Es war aber nicht die unförmige Nase in dem großflächigen Gesicht, die Pia stutzen ließ, es waren seine Augen: Sie blickten stechend unter dunklen Augenbrauen hervor.
Broders wirkte aufgekratzt. Sein Hals über dem engen Hemdkragen war gerötet. »Kommissarin Korittki, kommen Sie rein«, begrüßte er sie steif, obwohl sie sich eigentlich seit langem duzten. »Ich habe hier Herrn Manfred Rist bei mir sitzen. Es geht um die Taxi-Fälle, Sie wissen doch …«
Pia merkte auf. Die so genannten »Taxi-Fälle« waren ihr gut bekannt. Es handelte sich um eine Reihe äußerst brutaler Raubüberfälle, die im Raum Lübeck verübt worden waren. Wiederholt waren Taxifahrer nachts von einem Fahrgast in eine einsame Gegend gelockt, mit einem Totschläger niedergeprügelt und dann ausgeraubt worden. Einer der Taxifahrer war vor ein paar Wochen an seinen schweren Kopfverletzungen gestorben. Seitdem war das Kommissariat 1 in die Ermittlungen eingeschaltet worden.
»Herr Rist hat gerade ein Geständnis unterzeichnet, die Taxi-Fälle betreffend«, sagte Broders. Er schien sich Mühe zu geben, ganz ruhig und unbeteiligt zu erscheinen.
Seit Wochen arbeitete die Kripo auf Hochtouren an diesem Fall, und nun saß er einfach so da, der Mann, der die Raubüberfälle begangen hatte. Geständig.
In die Befriedigung über den gelösten Fall mischte sich bei Pia ein Hauch von Neid, dass Heinz Broders dieser dicke Brocken in den Schoß gefallen war. Broders hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Es schien bereits alles gesagt worden zu sein.
»Soll ich Herrn Rist hinunterführen …«, fragte Pia, das Wort Arrestzelle meidend. Sie griff nach ihren Handschellenam Gürtel, um den Mann ins Polizeizentralgewahrsam zu bringen.
Warum rührte sich Broders hinter seinem Schreibtisch nicht? Die ganze Situation gefiel ihr nicht besonders.
Trotzdem war sie völlig überrascht, als Manfred Rist plötzlich aufsprang und in Richtung Tür stürzte. Pia, angespannt und misstrauisch, reagierte mit kaum wahrnehmbarer Verzögerung. Der Mann war recht groß, mindestens ebenso groß wie sie, und er brachte
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