Engelslicht
ihr Magenschmerzen. Was wollte er von ihr?
Sie blinzelte, und es klang wie ein Blitzschlag – und dann wurde die trojanische Ebene schwarz wie in der Nacht zuvor. Die Erde war von gewundenen Rissen durchzogen. Rauchende Krater waren dort, wo das Feld gewesen war. Überall Staub und Asche und Tod. Die Bäume am Horizont standen in Flammen und mit dem Wind zog ein übler Verwesungsgestank heran. Es war, als wäre ihre Seele Jahrtausende in der Zeit zurückgeworfen worden. Da war kein Schnee auf den Bergen, keine saubere weiße Hütte vor ihr, kein Kreis aus besorgten Gesichtern von Engeln.
Aber da war Daniel.
Seine Flügel schimmerten durch die staubige Luft. Seine nackte Haut war perfekt, taufeucht, rosig. Seine Augen erstrahlten in dem gleichen berauschenden Violett, aber er sah sie nicht an. Er blickte zum Himmel. Er schien nicht zu wissen, dass Luce neben ihm stand.
Bevor sie seinem Blick nach oben folgen konnte, begann die Welt sich zu drehen. Der Geruch in der Luft veränderte sich von Fäulnis zu trockenem Staub. Sie war wieder in Ägypten, in dem dunklen Grab, wo sie eingesperrt gewesen war und beinahe ihre Seele verloren hätte. Diese Szene spielte sich vor ihren Augen ab: der Sternenpfeil warm in ihrem Kleid, die Panik deutlich auf dem Gesicht ihres früheren Ichs, der Kuss, der sie zurückholte – und Bill, der um den Sarkophag des Pharao herumflatterte und bereits seinen ehrgeizigsten Plan schmiedete. Sein raues Gelächter hallte ihr in den Ohren wider.
Und dann war das Lachen verstummt. Die Vision von Ägypten verwandelte sich in eine andere: Eine Lucinda aus einer noch ferneren Vergangenheit lag auf dem Bauch in einem Feld hoher Blumen. Sie trug ein Hirschfellkleid und hielt ein Gänseblümchen vor dem Gesicht, von dem sie ein Blatt nach dem anderen zupfte. Das letzte bog sich im Wind und sie dachte: Er liebt mich. Die Sonne blendete sie, bis etwas sich davorschob. Daniels Gesicht, seine Augen randvoll mit violetter Liebe, sein blondes Haar von einem Heiligenschein aus Sonnenstrahlen umrahmt.
Er lächelte.
Dann verschwand sein Gesicht. Eine neue Vision, ein anderes Leben: die Hitze eines Lagerfeuers auf ihrer Haut, Verlangen, das in ihrer Brust brannte. Da war seltsame, laute Musik, Leute lachten, Freunde und Verwandte überall um sie herum. Luce sah sich selbst mit Daniel, wie sie wild um das Feuer tanzten. Sie konnte die Rhythmen der Bewegungen tief in sich spüren, selbst als die Musik verklang und die züngelnden Flammen von einer heißen Röte zu einem weichen Silber übergingen.
Ein Wasserfall. Ein langer, breiter Sturz von eisigem Wasser über einen Kalksteinhang. Luce war darunter und teilte mit ihrem Schwimmstoß eine Gruppe Seerosen. Ihr langes, nasses Haar legte sich ihr um die Schultern, als sie sich über das Wasser erhob, dann tauchte sie unter. Sie kam auf der anderen Seite des Wasserfalls wieder hervor, in einer feuchten steinernen Lagune. Und da war Daniel, der auf sie wartete, als hätte er sein Leben lang auf sie gewartet.
Er sprang von einem Fels und bespritzte sie, als er in das Wasser eintauchte. Dann schwamm er auf sie zu, zog sie an sich, einen Arm um ihren Rücken und den anderen unter ihre Knie gelegt. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und ließ sich von ihm küssen. Sie schloss die Augen …
Bumm.
Wieder der Blitzschlag. Luce war zurück auf der qualmenden trojanischen Ebene. Aber diesmal war sie in einem der Krater gefangen, ihr Körper unter einem Felsblock begraben. Sie konnte das linke Bein und den linken Arm nicht bewegen. Sie mühte sich ab, schrie auf und sah rote Punkte und Splitter von etwas, das wie ein zerbrochener Spiegel aussah. Ihr war schwindelig von dem intensivsten Schmerz, den sie je verspürt hatte.
»Hilfe!«
Und dann: Daniel, der über ihr schwebte und seine violetten Augen starr vor Entsetzen über ihren Körper schweifen ließ. »Was ist mit dir passiert?«
Luce kannte die Antwort nicht – wusste nicht, wo sie war oder wie sie dort hingelangt war. Die Lucinda aus ihrer Erinnerung erkannte Daniel nicht einmal. Aber sie erkannte ihn.
Plötzlich begriff sie: Dies war das allererste Mal, dass sie und Daniel sich auf Erden begegnet waren. Dies war der Moment, um den sie gefleht hatte, der Moment, über den Daniel nie reden wollte.
Keiner erkannte den anderen. Sie waren sofort verliebt.
Wie konnte dies der Ort ihrer ersten Begegnung sein? Diese geplagte dunkle Landschaft stank nach Schmutz und Tod. Ihr vergangenes Ich sah geschlagen aus,
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