Engelslicht
wieder zurück auf ihren Platz. Steven ergriff Francescas Arm und schob sie zum Fenster hinüber. Schon bald tuschelten alle, und Luce hatte nicht genug Kraft, um mehr als Arrianes lautes: »Die kann sich ihre fette Geldspritze sonstwohin stecken« zu hören.
Draußen vor den Fenstern waren die Berge in ein schmales Band rostroten Lichts getaucht. Während Luce es betrachtete, krampfte sich ihr Magen zusammen, weil sie wusste, dass es den Sonnenaufgang des achten Tages anzeigte, des letzten vollen Tages, bevor …
Daniels Hand lag auf ihrer Schulter, warm und stark. »Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut.« Sie richtete sich auf und heuchelte Wachsamkeit. »Was müssen wir als Nächstes tun?«
»Schlafen.«
Sie straffte die Schultern. »Nein, ich bin nicht müde. Die Sonne geht auf, und Luzifer …«
Daniel beugte sich über den Schaukelstuhl und küsste sie auf die Stirn. »Es wird besser gehen, wenn du ausgeruht bist.«
Francesca blickte von ihrem Gespräch mit Steven auf. »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Wenn sie müde ist, muss sie schlafen. Einige Stunden werden nicht schaden. Wir sind bereits hier.«
»Aber ich bin nicht müde«, protestierte Luce, obwohl es offensichtlich war, dass sie log.
Francesca schluckte. »Ich schätze, du hast recht. Entweder es passiert oder es passiert nicht.«
»Was meint sie?«, fragte Luce Daniel.
»Nichts«, antwortete er leise. Dann drehte er sich zu Francesca um und sagte kaum hörbar: »Es wird passieren.« Er hob Luce weit genug an, dass er sich neben sie in den Schaukelstuhl gleiten lassen konnte. Dann schlang er die Arme um sie. Das Letzte, was sie spürte, war sein Kuss auf ihrer Schläfe und sein Flüstern in ihrem Ohr. »Lass sie ein letztes Mal schlafen.«
»Bist du bereit?«
Luce stand neben Daniel auf einem brachliegenden Feld draußen vor der weißen Hütte. Nebel stieg vom Boden auf und der Himmel war von dem klaren Blau wie nach einem schweren Sturm. Auf den Hügeln im Osten lag Schnee, aber die gewellten Ebenen des Tals verströmten eine frühlingshafte Wärme. Blumen blühten am Feldrand. Schmetterlinge waren überall, weiß und rosa und golden.
»Ja.«
Luce war gerade aufgewacht, als sie spürte, wie Daniel sie aus dem Schaukelstuhl hob und durch die Tür der stillen Hütte trug. Er musste sie die ganze Nacht in den Armen gehalten haben.
»Moment«, sagte sie. »Bereit wofür?«
Die anderen beobachteten sie, in einem Kreis versammelt, als hätten sie gewartet. Die Engel und die Outcasts hatten ihre Flügel ausgefahren.
Ein großer Schwarm Störche überquerte den Himmel, ihre Schwingen mit den schwarzen Spitzen weit ausgebreitet wie Palmwedel. Ihr Flug verdunkelte für einen Moment die Sonne und warf Schatten auf die Flügel der Engel, bevor die Vögel weiterzogen.
»Sag mir, wer ich bin«, sagte Daniel einfach.
Er war der einzige Engel, der die Flügel unter seinen Kleidern verbarg. Er trat von ihr weg, rollte die Schultern zurück, schloss die Augen und ließ die Flügel frei.
Sie entfalteten sich schnell und mit äußerster Eleganz, erwuchsen zu beiden Seiten von ihm und verursachten einen Windstoß, der die Zweige der Aprikosenbäume schwanken ließ.
Daniels Flügel ragten über seinem Körper auf, strahlend und wunderbar, und ließen ihn unaussprechlich schön aussehen. Er leuchtete wie eine Sonne – nicht nur seine Flügel, sein ganzer Körper – und sogar mehr als das. Was die Engel ihre Herrlichkeit nannten, strahlte von Daniel aus. Luce konnte den Blick nicht von ihm abwenden.
»Du bist ein Engel.«
Er öffnete seine violetten Augen.
»Erzähl mir mehr.«
»Du bist – du bist Daniel Grigori«, fuhr Luce fort. »Du bist der Engel, der mich seit Tausenden von Jahren liebt. Du bist der Junge, dessen Liebe ich von dem Moment an erwidert habe – nein, von jedem Moment, in dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe.« Sie sah, wie die Sonne auf dem Weiß seiner Flügel spielte, und sehnte sich danach zu spüren, wie sie sie umfingen. »Du bist die Seele, die in meine passt.«
»Gut«, erwiderte Daniel. »Jetzt sag mir, wer du bist.«
»Nun … ich bin Lucinda Price. Ich bin das Mädchen, in das du dich verliebtest.«
Ringsum herrschte eine angespannte Stille. Alle Engel schienen den Atem anzuhalten.
Daniels violette Augen füllten sich mit Tränen. Er flüsterte: »Mehr.«
»Reicht das nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Daniel?«
»Lucinda.«
Die Art, wie er ihren Namen aussprach – so ernst –, verursachte
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