Engelslicht
sofort erkannte, und Luce fragte sich, wie gut sie einander kannten.
»Unwahrscheinlich.« Barach wandte sich ab und spuckte einen Strom blauen Bluts und zwei scharfe, winzige Zähne auf den Boden aus.
Blitzartig hatte Phil dem Engel einen Sternenpfeil zwischen die Augen gerichtet. »Daniel Grigori hat dir befohlen, sie loszubinden. Du wirst gehorchen.«
Barach zuckte zusammen und warf einen verächtlichen Blick auf den Pfeil. »Gemein! Gemein!«
Ein dunkler Schatten fiel über Phil.
Benommen nahm Luce einen weiteren Waage-Engel wahr, die schrumpelige, alte Vettel mit den modrigen blauen Flügeln. Sie musste sich hochgerappelt haben, nachdem sie bewusstlos geschlagen worden war. Jetzt ging sie mit derselben Spitzhacke, die Phil gegen Zaban benutzt hatte, auf Phil los …
Aber dann löste der Waage-Engel sich in Staub auf.
Zehn Schritte hinter ihr stand Vincent mit einem leeren Bogen in der Hand. Er nickte Phil zu, dann drehte er sich um und ließ den Blick über den Teppich aus blauen Flügeln wandern, ob sich dort etwas bewegte.
Daniel wandte sich zu Phil und murmelte: »Wir dürfen nicht zu viele von ihnen töten. Die Waage spielt im Gleichgewicht eine Rolle. Wenn auch nur eine kleine.«
»Sehr bedauerlich«, entgegnete Phil mit einem seltsamen Neid in der Stimme. »Wir werden das Töten auf ein Minimum reduzieren, Daniel Grigori. Aber wir würden es vorziehen, sie alle umzubringen.« Er hob die Stimme, damit Barach ihn verstehen konnte. »Willkommen im Reich der Blindheit. Die Outcasts sind mächtiger, als du denkst. Ich würde dich ohne Zögern erledigen. Doch ich sage dir noch einmal: Binde sie los.«
Barach stand für einen langen Moment da, als würde er abwägen, und blinzelte mit seinem verbliebenen faltigen alten Augenlid.
»Mach sie los! Sie kann nicht atmen!«, brüllte Daniel.
Barach knurrte und trat zu Luce. Seine altersfleckigen Hände öffneten eine Reihe von Knoten, die weder Phil noch Daniel hatten finden können. Luce verspürte jedoch keine Erleichterung am Hals. Nicht bis er etwas zu flüstern begann, ganz leise, und Luce seinen stinkenden Atem roch.
Der Sauerstoffmangel hatte sie geschwächt, aber die Worte bohrten sich ihr in den vernebelten Verstand. Es war eine alte Form von Hebräisch. Luce wusste nicht, woher sie die Sprache kannte, aber sie tat es.
»Und der Himmel weinte, als er die Sünden seiner Kinder sah.«
Die Worte waren kaum zu verstehen. Daniel und Phil hatten sie nicht einmal gehört. Luce war sich nicht sicher, ob sie sie richtig vernommen hatte – aber sie waren ihr dennoch vertraut. Wo hatte sie diese Worte schon einmal gehört?
Die Erinnerung kam schneller, als ihr lieb war: ein anderes Mitglied der Waage, das Luce in einem anderen Körper in einen älteren Umhang als diesen steckte. Es war vor sehr langer Zeit geschehen. Sie hatte alles schon einmal durchgemacht, war gefesselt und dann freigelassen worden.
In jenem Leben hatte Luce etwas in die Hände bekommen, das sie nicht hätte sehen dürfen. Ein Buch, das mit einem komplizierten Knoten zusammengebunden war.
Die Geschichte der gefallenen Engel.
Was hatte sie damit gemacht? Was hatte sie sehen wollen?
Das Gleiche, was sie jetzt sehen wollte. Die Namen der Engel, die noch nicht gewählt hatten. Aber auch damals war es ihr nicht gestattet gewesen, das Buch zu lesen.
Vor langer Zeit hatte Luce das Buch in den Händen gehalten, und ohne zu wissen, wie, hatte sie den Knoten beinahe gelöst. Dann hatte der Waage-Engel sie geschnappt und in den Umhang eingewickelt. Luce hatte seine blauen Flügel beben sehen, als er das Buch heftig verknotet und abermals verknotet hatte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ihre unreinen Finger es nicht beschädigt hatten, hatte er es gesagt. Sie hatte ihn diese Worte flüstern hören – die gleichen seltsamen Worte –, unmittelbar bevor er eine Träne über dem Buch vergossen hatte.
Der goldene Faden hatte sich wie durch Zauberhand gelöst.
Sie schaute nun den runzligen alten Engel an und sah, wie ihm eine silbrige Träne aus dem Auge über die verwitterte Wange rann. Er sah ehrlich bewegt aus, aber auf eine herablassende Art und Weise, als bemitleide er das Schicksal ihrer Seele. Die Träne landete auf dem Umhang und auf rätselhafte Weise öffneten sich die Knoten.
Luce rang nach Luft. Daniel riss den Umhang ganz von ihr weg. Sie schlang die Arme um ihn. Frei.
Sie umarmte Daniel noch immer, als Barach sich nah an ihr Ohr beugte. »Es wird euch niemals
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