Engelslicht
Geschichte der gefallenen Engel
Jetzt hielt Zaban darauf zu. Kurz vor Luce, die ungeschützt mitten im Raum auf dem Boden lag, blieb er stehen. Er funkelte sie böse an und steckte das Buch ein.
»Oh nein«, sagte er. »Du wirst dir das nicht ansehen. Du wirst nicht sehen, was die Waageflügel alles geleistet haben. Auch nicht, was noch getan werden muss, um das letzte harmonische Gleichgewicht herzustellen. Du warst ja die ganze Zeit zu beschäftigt damit, dich selbstsüchtig zu verlieben und dich wieder zu trennen, um Notiz von uns und der Gerechtigkeit zu nehmen.«
Luce hasste zwar die Waage, doch wenn es eine Aufzeichnung über die Gefallenen gab, brannte sie darauf zu erfahren, wessen Namen auf diesen Seiten standen, brannte darauf zu erfahren, wo Daniels Name jetzt stand. Das war es also, wovon die Gefallenen ständig redeten. Ein einzelner Engel, der das Zünglein an der Waage war.
Aber bevor Zaban mit weiterer Kritik über Luce herfallen konnte, nahm ein Paar leuchtend weißer Flügel ihr Blickfeld ein – ein Engel, der durch das größte Loch in den Oberlichtern herabstieg.
Daniel landete vor ihr und besah sich den Umhang, der sie fesselte. Er musterte ihren eingeschnürten Hals. Dann spannte er die Muskeln an und versuchte, den Mantel wegzureißen.
Aus dem Augenwinkel sah Luce, wie Phil eine kleine Spitzhacke von einem Tisch nahm und Zaban quer über die Brust zog. Der Engel taumelte und versuchte, sich drehend außer Reichweite zu bringen. Die Hacke traf ihn am Arm. Der Schlag war so kraftvoll, dass er Zabans Hand am Handgelenk abtrennte. Luce wurde fast übel, als sie die bleiche, schlaffe Faust mit einem dumpfen Aufprall zu Boden fallen sah. Von dem blauen Blut einmal abgesehen, das daraus strömte, hätte sie auch einer der zerstörten Statuen gehören können.
»Binde sie dir mit einem deiner Knoten wieder an«, höhnte Phil, als Zaban zwischen den geschundenen, bewusstlosen Körpern der Mitglieder seiner Sekte nach der fehlenden Hand tastete.
»Tut es weh?« Daniel riss an den Knoten, die Luce fesselten.
»Nein.« Sie wollte, dass es die Wahrheit war. War es ja auch beinahe.
Als er mit roher Kraft nichts ausrichten konnte, versuchte Daniel, strategischer an den Umhang heranzugehen. »Gerade hatte ich das lose Ende noch«, murmelte er. »Jetzt ist es in dem Umhang verschwunden.« Seine Finger bewegten sich langsam über ihren Körper und fühlten sich gleichzeitig nah und fern an.
Luce wünschte, dass ihre Hände, mehr als jeder andere Teil ihres Körpers, frei gewesen wären, damit sie Daniel nun hätte berühren, seine Angst hätte lindern können. Sie vertraute darauf, dass er sie befreite. Sie vertraute ihm in allen Dingen.
Was konnte sie tun, um ihm zu helfen? Sie schloss die Augen und kehrte zu dem Leben auf Tahiti zurück. Daniel war Seemann gewesen. Er hatte ihr an den stillen Nachmittagen am Strand Dutzende von Knoten beigebracht. Sie erinnerte sich jetzt: Der Schmetterlingsknoten, der in der Mitte des Seils eine lange Schlaufe mit zwei Flügeln bildete und der sehr belastbar war, oder der Fischerknoten, auch Liebesknoten genannt. Er sah einfach aus, herzförmig, aber er konnte nur gelöst werden, wenn vier Hände gleichzeitig tätig waren, jede musste einen Strang durch einen anderen Teil des Herzens führen.
Daniel rollte mit den Fingern den Kragen um und zog ihn damit noch weiter zusammen. Er fluchte, als er ihr in den Hals schnitt.
»Ich kann es nicht«, rief er schließlich aus. »Die Zwangsjacke der Waage besteht aus unendlichen Knoten. Nur einer von ihnen kann sie aufbinden. Wer hat dir das angetan?«
Luce deutete mit dem Kopf auf den Engel mit den blauen Flügeln, der vor sich hin heulte und in einer Ecke neben einem Marmorfaun herumtorkelte. Die Befiederung des Sternenpfeils ragte ihm noch immer aus dem Auge. Luce wollte Daniel erzählen, wie ihr Peiniger Olianna mit einer Fahnenstange ausgeschaltet hatte und sie dann gefesselt und hierhergebracht hatte.
Aber sie konnte nicht einmal sprechen. Der Umhang war zu eng.
Mittlerweile hatte Phil den jammernden Engel am Kragen seines blutgetränkten Mantels gepackt. Er schlug dem Waage-Engel dreimal ins Gesicht, bevor dieser aufhörte, voller Selbstmitleid zu stöhnen und erschrocken seine blauen Flügel zurückzog. Luce sah, dass sich ein dicker Kranz aus getrocknetem Blut um die Stelle gebildet hatte, wo die Befiederung des Pfeils aus der Augenhöhle ragte.
»Binde sie los, Barach«, befahl Daniel, der Luce’ Peiniger
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