Engelslicht
er sich vorkam. Nichts sollte eine Seele wie Roland fesseln. Durch diesen Umhang konnte sie nichts von der Eleganz sehen, die den gefallenen Engel zu dem machten, der er war – ob er nun die Nephilim an der Shoreline beim Fechten besiegte, bei einer Party an der Sword & Cross die Plattenteller drehte oder gewandter als jeder andere, den sie kannte, durch die Verkünder trat. Dass die Waage ihrem Freund das angetan hatte, machte Luce so zornig, dass ihr die Tränen kamen.
Tränen.
Das war es.
Die hebräischen Worte fielen ihr wieder ein. Ihre Reisen hatten ihr eine Gabe für Sprachen geschenkt. Sie schloss die Augen und sah im Geiste, wie die goldene Schnur von dem Buch abfiel. Sie erinnerte sich daran, wie Barachs rissige Lippen selbstgerecht die Worte geformt hatten …
Und Luce sprach sie nun zu Roland, ohne zu wissen, was sie bedeuteten, nur in der Hoffnung, dass sie helfen konnten.
»Und der Himmel weinte, als er die Sünden seiner Kinder sah.«
Rolands Augen wurden groß. Die Knoten lösten sich. Der Umhang fiel zu seinen Seiten herunter und auch der Knebel glitt ihm aus dem Mund.
Er rang nach Luft, rollte sich auf die Knie, stand auf und ließ seine goldenen Flügel mit atemberaubender Wucht hervorschießen. Das Erste, was er tat, war Luce auf die Schulter zu klopfen.
»Danke, Lucinda. Für die nächsten tausend Jahre schuldet dir dieser Gefallene einen Gefallen.«
Roland war wieder frei – aber Blut sickerte aus der Stelle, wo Barach ihm das falsche Zeichen aus dem Flügel gerissen hatte.
Daniel nahm Luce an der Hand und zog sie zu den beiden anderen gefesselten Engeln. Er hatte Luce beobachtet und von ihr gelernt. Und so machte er sich daran, Annabelle zu befreien, während Luce vor Arriane kniete. Arriane konnte nicht still liegen. Der Umhang war so fest um sie geschnürt, dass Luce kaum hinsehen mochte.
Ihre Blicke trafen sich. Arriane gab einen Laut von sich, den Luce so interpretierte, dass sie sich freute, Luce zu sehen. Luces Augen wurden feucht, als sie sich an ihren ersten Tag an der Sword & Cross erinnerte. Damals hatte sie mitangesehen, wie Arriane sich einer Elektroschockbehandlung unterzog. Der ultracoole Engel war ihr so zerbrechlich erschienen, und obwohl Luce das Mädchen kaum gekannt hatte, hatte sie den Drang verspürt, Arriane zu beschützen, so wie man alte Freunde schützt. Dieser Drang war im Laufe der Zeit nur noch stärker geworden.
Eine heiße Träne rollte ihr über die Wange und landete mitten auf Arrianes Brust. Luce flüsterte die hebräischen Worte und hörte, wie Daniel sie gleichzeitig Annabelle zuflüsterte. Sie warf ihm einen Blick zu. Seine Wangen waren feucht.
Urplötzlich lösten sich die Knoten, dann fielen sie ganz auseinander. Die Engel waren durch Luces und Daniels Hände befreit worden – und durch ihre Herzen.
Das Ausfahren von Arrianes Ehrfurcht gebietenden, schillernden Flügeln verursachte einen Windstoß, gefolgt von einem sanfteren Lufthauch von Annabelles silberglänzenden Flügeln. Im Raum herrschte beinahe Stille, bevor die Knebel der beiden Mädchen abfielen. Arriane hatte außerdem ein Stück Klebeband über dem Mund; sie war wahrscheinlich der Grund gewesen, warum man die anderen überhaupt geknebelt hatte. Daniel nahm eine Ecke des Klebebandes und riss es mit einem Ruck ab.
»Ja, Wahnsinn! Ist das gut, frei zu sein!«, rief Arriane und betastete das rot geschwollene, rechteckige Stück Haut um ihren Mund. »Ein dreifaches Hoch auf die Knotenmeisterin Lucinda!« Sie sprühte vor Leben, aber sie kämpfte mit den Tränen. Als sie sah, dass Luce es sah, wischte sie sie hastig weg.
Sie ging über den mit Flügeln übersäten Boden, schnitt spöttische Grimassen vor den bewusstlosen Waage-Engeln und sprang auf sie zu, als wolle sie sie schlagen. Ihr Jeansoverall war fast völlig zerfetzt, ihr Haar zerzaust und fettig, und auf dem linken Wangenknochen hatte sie eine Prellung, die wie eine Landkarte von Australien aussah. Die Spitzen ihrer schillernden Flügel waren verbogen und schleiften über den schmutzigen Boden.
»Arriane«, flüsterte Luce. »Du bist verletzt.«
»Ach, was soll’s, Kind, mach dir um mich keinen Kopf.« Arriane warf ihr ein schiefes Grinsen zu. »Ich fühle mich fit genug, um dieser alten Waage mal so richtig in den Arsch zu treten!« Sie schaute sich im Raum um. »Nur dass es leider so aussieht, als seien mir die Outcasts zuvorgekommen.«
Annabelle erhob sich langsamer als Arriane, breitete ihre muskulösen silbernen
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