Engelslicht
kann.« Sie tätschelte Luce das erschütterte Gesicht. »Keine Sorge, Liebes, ich habe die wertvollen Bände der Sammlung längst gespendet – größtenteils dem Vatikan, einige sind an die Huntington gegangen und an eine ahnungslose kleine Stadt in Arkansas. Niemand wird diesen Ort vermissen. Ich bin die letzte Bibliothekarin hier, und ich habe ehrlich gesagt nicht die Absicht, nach dieser Mission hierher zurückzukehren.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie wir an ihnen vorbeikommen.« Daniels Blick ruhte starr auf dem wirbelnden blauschwarzen Himmel.
»Ich werde eine zweite Patina herstellen müssen, die nur unsere Körper umfasst und uns eine sichere Passage garantiert. Dann werde ich diese hier öffnen und die Waage hineinfliegen lassen.«
»Ich glaube, ich verstehe, worauf du hinauswillst«, sagte Arriane, während sie wie ein Affe einen Ast hinaufkletterte, um sich in die Eiche zu setzen.
»Die Stiftsbibliothek wird geopfert werden« – Dee runzelte die Stirn –, »aber zumindest wird die Waage schönes Feuerholz abgeben.«
»Moment mal, wie wird die Bibliothek geopfert werden?« Roland verschränkte die Arme vor der Brust und schaute auf Dee hinab.
»Ich hatte gehofft, dass Sie mir dabei helfen könnten, Roland«, antwortete Dee mit einem Glitzern in den Augen. »Sie sind doch ein kleiner Feuerteufel, nicht wahr?«
Roland zog die Augenbrauen hoch, aber Dee hatte sich bereits umgedreht. Sie stand vor dem Baumstamm und griff nach einer Beule in seiner Rinde, zog daran wie an einem geheimen Türknauf und öffnete den Stamm zu einer ausgehöhlten Kammer in seinem Inneren. Dort war das Holz poliert und der Raum hatte ungefähr die Größe eines kleinen Spindes. Dees Arm tauchte hinein und zog einen langen goldenen Schlüssel hervor.
»So öffnet man die Patina?«, fragte Luce, überrascht, dass man dazu einen echten Schlüssel benötigte.
»Nun, auf diese Art schließe ich sie auf, damit sie für unsere Zwecke manipuliert werden kann.«
»Wenn Sie sie öffnen und es ein Feuer geben sollte«, sagte Luce, die sich daran erinnerte, wie die Frau, die mit ihrem Hund Gassi gegangen war, beim Überqueren des Rasens der Bibliothek für einen Moment wie vom Erdboden verschluckt gewesen war, »was wird dann mit den Häusern geschehen, mit den Menschen auf der Straße?«
»Das ist das Komische an der Patina«, sagte Dee und kniete sich hin, um nach etwas zu suchen. »Sie befindet sich auf der Grenze zwischen der Realität der Vergangenheit und der Gegenwart, und so können wir hier und nicht hier sein, in der Gegenwart und auch anderswo. Es ist ein Ort, an dem alles, was wir uns über Zeit und Raum vorstellen, in materieller Form zusammenkommt.« Sie hob die Wedel eines übergroßen Farns und grub mit den Händen in der Erde. »Außerhalb der Patina werden keine Sterblichen betroffen sein, aber wenn die Waage so räuberisch ist, wie wir sie kennen, wird sie direkt auf uns herabstoßen, sobald ich die Patina öffne. Für einen Augenblick wird sie sich mit uns gemeinsam in der anderen Wirklichkeit befinden, in der die Stiftsbibliothek noch in dieser Straße steht.«
»Und wir werden in der zweiten Patina hinausfliegen«, vermutete Daniel.
»Genau«, bestätigte Dee. »Dann brauchen wir diese nur um sie herum zu schließen. So, wie sie jetzt nicht hineinkommen können, werden sie dann nicht hinauskommen. Und während wir sicher nach dem schönen, alten Avignon fliegen, wird die Bibliothek in Rauch aufgehen, während die Waage darin gefangen ist.«
»Es ist brillant«, sagte Daniel. »Streng genommen wird die Waage noch am Leben sein, daher wird unser Eingreifen das himmlische Gleichgewicht nicht durcheinanderbringen, aber sie werden …«
»Sie werden Brandflecken der Vergangenheit sein, abgeschottet, aus dem Weg. Richtig. Sind alle an Bord?« Dees Gesicht leuchtete auf. »Ah, da ist es ja!«
Umringt von Luce und den Engeln, streifte Dee den Schmutz von einem Schlüsselloch ab, das im Garten vergraben war. Sie schloss die Augen, hielt den Schlüssel fest ans Herz gedrückt und flüsterte einen Segen:
»Licht umgebe uns, Liebe umfange uns, schütze uns, Patina, gegen das Böse, das kommen muss.«
Vorsichtig schob sie den Schlüssel in das Schloss. Ihr Handgelenk zitterte unter der Kraftanstrengung, die nötig war, um den Schlüssel zu drehen, aber schließlich machte er knarrend eine Vierteldrehung nach rechts. Dee atmete tief aus und erhob sich, dann wischte sie sich die Hände am Rock ab.
»Auf
Weitere Kostenlose Bücher