Engelslicht
geht’s.«
Sie hob die Arme über den Kopf und senkte sie dann, ganz langsam und sehr vorsichtig, zu ihrem Herzen herunter. Luce wartete darauf, dass die Erde sich bewegte, dass irgendetwas geschah, aber für einen Moment schien sich nichts verändert zu haben.
Dann, als der Raum um sie herum stecknadelstill wurde, hörte Luce ein beinahe lautloses, helles Geräusch, das wie Händereiben klang. Die Luft schien sich leicht zu verdrehen und ließ alles – das braune Haus, die Reihe von Wiener Stadthäusern daneben, selbst die blauen Flügel der Waage hoch oben in der Luft – erzittern. Farben bogen sich und schmolzen. Es war, als stünde man in dem trüben Nebel, der von ausfließendem Benzin aufsteigt.
Wie zuvor konnte Luce die Patina sehen und nicht sehen. Ihre formlose Grenze war einen Moment lang sichtbar – schillernd und durchsichtig wie eine Seifenblase –, dann verschwand sie. Aber Luce konnte spüren, wie sie sich um die kleine Stelle im Garten bildete, wo sie und die anderen standen, sie verströmte Wärme und gab Luce das Gefühl, von einem mächtigen Schutz umschlossen zu werden.
Niemand sprach, alle waren verstummt angesichts des Wunders, das Dee vollbracht hatte.
Luce betrachtete die alte Frau, die so intensiv vor sich hin summte, dass sie beinahe zu vibrieren schien. Und dann spürte sie zu ihrer Überraschung, dass die innere Patina vollendet war. Etwas, das sich einen Moment zuvor noch unvollständig angefühlt hatte, war nun vollendet. Dee nickte, wobei sie die Hände über dem Herzen hielt, als würde sie beten. »Wir sind in der Patina innerhalb der Patina. Wir sind im Herzen der Sicherheit. Wenn ich die äußere Barriere für die Waage öffne, vertraut dieser Sicherheit und bewahrt Ruhe. Euch kann nichts passieren.«
Wieder flüsterte sie die Worte – Licht umgebe uns, Liebe umfange uns, schütze uns, Patina, gegen das Böse, das kommen muss –, und Luce ertappte sich dabei, dass sie mitmurmelte. Daniels Stimme fiel ebenfalls ein.
Und dann war es, als ob ein kalter Windstoß durch ein Loch in einen warmen Raum fuhr. Sie rückten enger zusammen, Flügel an Flügel, Luce in der Mitte. Sie beobachteten den sich verändernden Himmel.
Ein wildes Kreischen kam von hoch oben, in das Tausende einfielen. Die Waage konnte es jetzt sehen.
Sie schwärmte auf das Loch zu.
Die Öffnung war für Luce so gut wie unsichtbar, aber sie musste sich genau über dem Schornstein des braunen Hauses befinden. Die Waage-Engel steuerten darauf zu, wie geflügelte Ameisen, die über einen Marmeladenklecks herfallen. Sie schlugen auf dem Dach, dem Gras, der Regenrinne des Hauses auf. Ihre Umhänge blähten sich unter der Wucht der harten Landung. Ihre Augen schweiften über das Grundstück – sie spürten Luce, Dee und die Engel, und spürten sie nicht.
Luce hielt den Atem an und gab keinen Laut von sich.
Die Waage-Engel strömten in immer größerer Zahl heran. Schon bald wimmelte es im Garten von ihren steifen blauen Flügeln. Sie umringten Dees innere Patina und warfen hungrige Wolfsblicke genau auf die Stelle, wo ihre Beute sich versteckte. Aber die Waage konnte die Engel, das Mädchen und die Transhimmlische, die sicher im Innern waren, nicht sehen.
»Wo sind sie?«, knurrte einer von ihnen, und sein Umhang verfing sich in dem Meer von blauen Flügeln, als er sich durch die Menge seiner Brüder schob. »Sie stecken hier irgendwo.«
»Bereitet euch darauf vor, im Eiltempo nach Avignon zu fliegen«, flüsterte Dee, die steif dastand, während ein Waage-Engel mit einem Geburtsmal quer über dem Gesicht sich am Rand ihrer Patina vorbeugte und wie ein Schwein auf der Suche nach Futter schnüffelte.
Arrianes Flügel zitterten, und Luce wusste, dass sie daran dachte, was die Waage ihr angetan hatte. Luce griff nach der Hand ihrer Freundin.
»Roland, wie wäre es jetzt mit einer mächtigen Feuersbrunst?«, sagte Daniel mit geschürzten Lippen.
»Du hast es erfasst.« Roland verschränkte die Finger und runzelte die Stirn, dann fixierte er das braune Haus. Es gab einen großen Knall, als sei eine Bombe detoniert, und die Stiftsbibliothek explodierte. Waage-Engel wurden kreischend in den Himmel der Patina geschleudert, die Umhänge in fingerartige Flammen gehüllt.
Roland machte einen Wink mit der Hand, und das Loch, wo die Bibliothek gestanden hatte, wurde zu einem Vulkan, der Feuer spie und Lava über den Rasen strömen ließ. Die Eiche geriet in Brand. Flammen breiteten sich in ihren Zweigen aus, als
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