Engelslicht
wenn sie sich in der Patina befanden. Und sie sahen auch das braune Haus nicht. Luce beobachtete eine Frau in einem schwarzen Frotteebademantel und einer Regenhaube aus Plastik, die übernächtigt mit ihrem kleinen Wuschelhund auf sie zukam. Ihr Besitz grenzte an den überwucherten Kiespfad, der zur Stiftsbibliothek führte. Die Frau und ihr Hund betraten den Weg.
Und verschwanden.
Luce stieß einen überraschten Schrei aus, aber dann deutete Daniel hinter sie, zu der anderen Seite des Rasens der Bibliothek. Sie wirbelte herum. Einige Meter entfernt, wo der Kiesweg aufhörte und der moderne Gehsteig sich fortsetzte, tauchten die Frau und der Hund wieder auf. Der Hund kläffte hysterisch, aber die Frau ging weiter, als hätte nichts ihre Morgenroutine gestört.
Luce ging auf, wie seltsam es war, dass die ganze Mission der Engel darin bestand, dafür zu sorgen, dass das Leben dieser Frau so blieb. Damit nichts geschah, um die Welt dieser Frau auszulöschen, sodass sie noch nicht einmal mitbekam, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte.
Die Menschen auf der Straße mochten zwar weder Luce noch die Engel bemerkt haben, aber den Himmel bemerkten sie durchaus. Die Frau mit dem Hund warf immer wieder besorgte Blicke nach oben, und die meisten, die ihre Häuser verließen, trugen Regenmäntel und hatten Schirme dabei.
»Wird es regnen?« Luce war mit Daniel durch warme Regenschauer geflogen, die sie erfrischt und beschwingt hatten … aber dieser Himmel war unheilverkündend, fast schwarz.
»Nein«, antwortete Dee. »Es wird nicht regnen. Das ist die Waage.«
»Was?« Luce riss den Kopf hoch. Sie warf einen kurzen Blick auf den Himmel und war entsetzt, als er sich verschob und absackte. Gewitterwolken bewegten sich nicht so.
»Der Himmel wird von ihren Flügeln verdunkelt.« Arriane schauderte. »Und ihren Umhängen.«
Nein.
Luce starrte in den Himmel, bis sie verstand, was sie sah. Die wogende Masse blaugrauer Flügel löste ein Schwindelgefühl in ihr aus. Sie waren über dem Himmel verschmiert, dick wie eine Farbschicht, und verdeckten die aufgehende Sonne. Die Schläge der kurzen Flügel summten wie ein Hornissenschwarm. Ihr krampfte sich das Herz zusammen, als sie versuchte, sie zu zählen. Es war unmöglich. Wie viele Hunderte schwebten dort über ihnen?
»Wir werden belagert«, stellte Daniel fest.
»Sie sind so nah«, sagte Luce und zuckte zusammen, als der Himmel sich wie in einem Strudel drehte. »Können sie uns sehen?«
»Nicht direkt, aber sie wissen, dass wir hier sind«, erwiderte Dee locker, als eine kleine Gruppe von Waage-Engeln tiefer flog, tief genug, dass sie ihre verschrumpelten, blutrünstigen Gesichter sehen konnten. Kalte Augen wanderten über die Stelle, an der Luce und die anderen versammelt waren, aber wenn es um die Patina ging, schien die Waage ungefähr so blind zu sein wie die Outcasts.
»Meine Patina umgibt uns, so wie ein Teewärmer eine Kanne umgibt, und bildet eine schützende Barriere. Die Waage kann nicht hindurchsehen oder durch sie hindurchreisen.« Dee lächelte Luce an. »Sie reagiert nur auf das Klingeln einer gewissen Art von Seele, einer Seele, die sich ihres eigenen Potenzials nicht bewusst ist.«
Daniels Flügel pulsierten neben ihr. »Sie scharen unablässig weitere Brüder um sich. Wir müssen hier irgendwie herauskommen und wir müssen uns beeilen.«
»Ich habe nicht die Absicht, mich in eine ihrer halsbrecherischen Burkas einwickeln zu lassen«, stellte Dee fest. »Niemand ergreift mich in meinem eigenen Haus!«
»Ich mag die Art, wie sie redet«, flüsterte Annabelle Luce zu.
»Folgt mir!«, rief Dee und rannte durch ein Tor eine Gasse entlang. Sie spurteten hinter ihr her durch ein unerwartetes Kürbisbeet, um eine kunstvolle und verfallene Gartenlaube herum und in einen großen und üppigen grünen Garten.
Roland reckte das Kinn gen Himmel. Er war jetzt dunkler, von noch mehr Flügeln verdeckt.
»Wie lautet der Plan?«
»Nun, zunächst einmal« – Dee kam herübergeschlendert und blieb unter einer Eiche in der Mitte des Gartens stehen – »muss die Bibliothek zerstört werden.«
Luce stieß einen überraschten Schrei aus. »Warum?«
»Einfache Mechanik. Diese Patina hat immer die Bibliothek umfasst, also muss sie bei der Bibliothek bleiben. Um an der Waage vorbeizukommen, werden wir die Patina öffnen müssen, und damit machen wir die Stiftsbibliothek sichtbar, und ich habe nicht vor, sie zu verlassen, nur damit die Waage sich darin breitmachen
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