Engelslicht
ich habe diesen Ort gesehen, und ich …«
»Du bist in das Heiligtum hineingegangen, das hier früher gewesen ist«, sagte Luce, der wieder einfiel, was Daniel ihr über den Grund erzählt hatte, warum gefallene Engel nicht in die Nähe von Kirchen gingen. An der Grabeskirche waren sie alle nervös gewesen. Und sie hatten sich nicht der Kapelle auf der Pont Saint-Bénézet nähern wollen.
»Ich wusste es nicht!« Arrianes Brust bebte, als sie einatmete.
»Natürlich nicht.« Luce legte einen Arm um Arriane. Sie war nur Haut und Knochen und Flügel. Der Engel legte Luce den Kopf auf die Schulter. »Ist es in die Luft geflogen?«
Arriane nickte. »So wie du … nein« – sie korrigierte sich – »so wie du es früher in deinen anderen Leben getan hast. Puff. Das ganze Ding stand in Flammen. Nur war es nicht total – entschuldige, wenn ich das so sage –, tragisch schön oder romantisch. Es war trostlos und schwarz und endgültig. Wie eine Tür, die mir vor der Nase zuschlug. In dem Moment wurde mir klar, dass ich wirklich aus dem Himmel hinausgeworfen worden war.« Sie drehte sich zu Luce um, ihre großen blauen Augen unschuldiger, als Luce sie je gesehen hatte. »Ich wollte den Himmel nicht verlassen. Es war ein Unfall, viele von uns wurden einfach … in den Kampf von jemand anderem hineingezogen.«
Sie zuckte die Achseln und einer ihrer Mundwinkel ging schelmisch nach oben. »Vielleicht habe ich mich zu sehr daran gewöhnt, ein Außenseiter zu sein. Aber es passt irgendwie zu mir, findest du nicht?« Sie machte eine Fingerpistole und feuerte in Cams Richtung. »Ich schätze, es macht mir nichts aus, mit dieser Bande von Gesetzlosen umherzuziehen.« Dann veränderte sich Arrianes Gesicht und jede Spur von Schalk verschwand. Sie packte Luce an den Schultern und flüsterte: »Das ist es.«
»Was?« Luce fuhr herum.
Die Engel und die Outcasts mussten inzwischen mehrere Tonnen Gestein fortgeschafft haben. Sie standen jetzt dort, wo der Geröllhaufen gewesen war. Es hatte bis kurz vor Morgengrauen gedauert. Doch nun erhob sich das innere Heiligtum vor ihnen, das Dee ihnen versprochen hatte. Die elegante alte Dame hatte Wort gehalten.
Nur zwei brüchige Wände waren erhalten und formten einen rechten Winkel, aber der graue Fliesenrand auf dem Boden ließ darauf schließen, dass es sich ursprünglich um einen großen Raum gehandelt hatte. Große, schwere Marmorsteine bildeten den Fuß der Mauern, wo kleinere, zerfallende Sandsteinziegel einst ein Dach gehalten hatten. Verwitterte Friese schmückten Teile des Gebäudes – geflügelte Wesen, so alt und verblasst, dass sie beinahe mit dem Stein verschmolzen. Ein Feuer hatte Teile des ausladenden dekorativen Gesimses am oberen Rand der Mauern verkohlt.
Die inzwischen vollkommen freigelegten Feigen- und Olivenbäume markierten die Grenze zwischen Dees sauber gefegter Pfeilspitzenplatte und dem ausgegrabenen Heiligtum. Die zwei fehlenden Wände überließen den Rest des Gebäudes Luce’ Fantasie, die sich alte Pilger vorstellte, die hier zum Gebet niederknieten. Es war klar, wo sie knien würden:
Vier ionische Marmorsäulen mit kannelierten Schäften und Volutenkapitellen umgaben ein erhöhtes Podest. Und auf diesem Podest stand ein riesiger rechteckiger Altar aus hellbraunem Stein.
Der Altar sah vertraut aus, aber anders als alles, was Luce je zuvor gesehen hatte. Er war mit Schmutz und Steinen verkrustet, und Luce konnte die Reste einer Skulptur erkennen, die oben herausgemeißelt worden war: zwei steinerne Engel, die einander zugewandt waren, jeder vom Format einer großen Puppe. Sie waren einst vergoldet gewesen, so schien es, aber jetzt war nur noch wenig von ihrem früheren Glanz übrig. Die Engel knieten im Gebet, die Köpfe gesenkt und ohne Heiligenschein, und ihre schönen, bis ins Detail ausgearbeiteten Flügel wölbten sich nach vorne, sodass die oberen Ränder sich berührten.
»Ja.« Dee holte tief Luft. »Das ist es. Qayom Malak. Es bedeutet ›Aufseher der Engel‹. Oder, wie ich es gern nenne: ›Gehilfe der Engel‹. Es birgt ein Geheimnis, das keine Seele je enträtselt hat: den Schlüssel zu dem Ort, an dem die Gefallenen auf der Erde gelandet sind. Erinnerst du dich daran, Arriane?«
»Ich glaube schon.« Arriane wirkte nervös, als sie auf die Skulptur zutrat. Lange stand sie still vor den knienden Engeln. Dann kniete sie sich selbst hin. Sie berührte die Flügel, die Stelle, wo die beiden Engel miteinander verbunden waren. Sie
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