Engelslicht
schien etwas zu zählen. Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet. Luce beobachtete Dee für einige Momente und sah, dass die alte Dame ihre Schritte zählte, wie bei einer Stellprobe im Theater.
Sie schaute auf und begegnete Luces Blick. »Komm mit.«
Luce sah Daniel an, seine schweißglänzende Haut. Er war mit einem großen, sperrigen Felsbrocken beschäftigt. Sie drehte sich um und folgte Dee in den Eingang der Höhle.
Dees Laterne flackerte wie ein Stroboskop in die dunklen Tiefen. Die Höhle war unendlich viel finsterer und kälter ohne den Schimmer der Engelsflügel. Dee stöberte eine Zeit lang in ihrer Kiste.
»Wo steckt dieser verdammte Besen?«, murmelte sie.
Luce beugte sich über Dee und hielt eine andere Laterne hoch, um ihr bei der Suche mehr Licht zu geben. Sie griff in die riesige Truhe und spürte das raue Stroh eines Besens. »Hier.«
»Wunderbar. Immer der letzte Ort, an dem man sucht, vor allem wenn man nichts sehen kann.« Dee warf sich den Besen über die Schulter. »Ich möchte dir etwas zeigen, während die anderen mit der Ausgrabung fortfahren.«
Sie gingen zurück auf das Plateau, das jetzt vom Klingen von Metall auf Stein widerhallte. Dee blieb am Rand des Felsrutsches stehen und wandte sich dem Bereich zu, den die Engel freihalten sollten. Sie zog den Besen in energischen, geraden Linien darüber. Luce hatte gedacht, das Plateau bestehe vollständig aus dem gleichen roten Gestein, aber nachdem Dee gründlich gefegt hatte, bemerkte Luce, dass eine flache Marmorplattform zum Vorschein gekommen war. Und es wurde ein Muster sichtbar, gebildet aus hellgelbem und weißem Stein.
Schließlich erkannte Luce ein Symbol: eine lange Linie aus gelbem Stein, die von weißen, absteigenden diagonalen Linien eingefasst war, die immer kürzer wurden.
Luce hockte sich hin, um mit den Fingern über den Stein zu streichen. Es sah aus wie eine Pfeilspitze, die vom Berggipfel weg zeigte, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Dies ist die Pfeilspitzenplatte«, sagte Dee. »Sobald alles bereit ist, werden wir sie als eine Art Bühne benutzen. Cam hat das Mosaik vor vielen Jahren geschaffen, obwohl ich bezweifle, dass er sich daran erinnert. Er hat seitdem so viel durchgemacht. Liebeskummer ist eine eigene Form von Amnesie.«
»Sie wissen von der Frau, die Cam das Herz gebrochen hat?«, flüsterte Luce und erinnerte sich, dass Daniel ihr gesagt hatte, dass sie es nie erwähnen sollte.
Dee runzelte die Stirn, nickte und deutete auf den gelben Pfeil in den marmornen Fliesen. »Was hältst du von dem Muster?«
»Ich finde es schön«, antwortete Luce.
»Ich auch«, bestätigte Dee. »Ein ähnliches ist über meinem Herzen eintätowiert.«
Lächelnd machte Dee die beiden obersten Knöpfe ihrer Strickjacke auf, unter der sie ein gelbes Hemdchen trug. Sie zog den Halsausschnitt ein Stück nach unten und entblößte ihre blasse Haut. Schließlich zeigte sie auf eine schwarze Tätowierung auf ihrer Brust. Sie hatte genau die gleiche Form wie die Linien in dem Boden des Felsens.
»Was bedeutet es?«, fragte Luce.
Dee tippte leicht auf die Tätowierung und zog ihr Hemdchen wieder hoch. »Ich kann es gar nicht erwarten, es dir zu erzählen« – sie lächelte und drehte sich, sodass sie der Geröllhalde zugewandt war –, »aber immer eins nach dem anderen. Sieh nur, wie gut sie vorankommen!«
Die Engel und Outcasts hatten einen Teil der oberen Schicht des Felsrutsches weggeräumt. Die Ecke einer alten Ziegelmauer ragte mehrere Meter hoch aus den Trümmern. Sie war schwer beschädigt, hier und da klafften Löcher wie unbeabsichtigte Fenster. Das Dach war verschwunden. Einige der Ziegelsteine waren von einem lang vergessenen Feuer geschwärzt. Andere sahen modrig aus, als erholten sie sich von einer prähistorischen Flut. Aber die rechteckige Form des ehemaligen Tempels wurde allmählich erkenn-bar.
»Dee«, rief Roland und winkte die Frau an die Nordwand heran, um seinen Fortschritt zu begutachten.
Luce kehrte an Daniels Seite zurück. In der Zeit, die sie bei Dee gewesen war, hatte er einen hohen Haufen Steine beiseite geräumt und ordentlich rechts neben dem Hang aufgeschichtet. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie kaum geholfen hatte, und nahm schnell wieder die Spitzhacke zur Hand.
Sie arbeiteten stundenlang. Es war weit nach Mitternacht, als sie die Hälfte des Hanges freigelegt hatten. Dees Laternen erhellten das Plateau, aber Luce blieb lieber nah bei Daniel, denn in dem
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