Engelslicht
Kelch füllen.« Sie hielt inne und sah tief in die Silberne Feder hinein. »Wenn er gefüllt ist, werden wir ihn auf dem kunstvollen Fliesenboden der Platte ausleeren, der Bilder davon enthält, wie die Welt einst war.«
»Wenn der Kelch gefüllt ist?«, wiederholte Luce. »Gefüllt womit?«
»Immer eins nach dem anderen.« Dee trat an den Rand der Marmorplatte und wischte ein wenig Schmutz beiseite. Dann beugte sie sich vor, um den Kelch direkt auf das gelbe Symbol in dem Stein zu stellen. »Ich glaube, das kommt hierhin.«
Luce stand gebannt neben Daniel, während sie zusahen, wie Dee langsam auf der Platte auf und ab ging. Schließlich nahm sie den Heiligenschein wieder auf und trug ihn zu dem Qayom Malak. Irgendwann hatte sie die Wanderschuhe ausgezogen und war in ihre Stilettos geschlüpft, sodass ihre Absätze nun auf dem Marmor klapperten. Ihr ungebändigtes Haar fiel ihr bis zur Taille hinab. Sie sog die Luft tief und genüsslich ein und stieß sie dann wieder aus.
Mit beiden Händen hob sie den Heiligenschein über ihren Kopf, flüsterte ein kurzes Gebet und ließ ihn dann sehr vorsichtig genau auf den Kreis sinken, der von den sich berührenden Flügelspitzen der Skulptur der betenden Engel gebildet wurde. Er passte wie ein Ring auf einen Finger.
»Das habe ich nicht kommen sehen«, flüsterte Arriane Luce zu.
Luce hatte es auch nicht kommen sehen – sie war jedoch davon überzeugt, dass die Frau einen zutiefst heiligen Akt vollzog.
Als Dee sich wieder zu Luce und den Engeln umdrehte, sah sie so aus, als wolle sie etwas sagen. Stattdessen ließ sie sich auf die Knie sinken und legte sich zu Füßen des Qayom Malak auf den Rücken. Daniel stürzte auf sie zu, bereit zu helfen, aber sie winkte ab. Ihre Schuhspitzen lagen an der Basis des Qayom Malak, ihre schlanken Arme hatte sie über den Kopf gestreckt, sodass sie mit den Fingerspitzen die silberne Feder berührte. Ihr Körper passte genau dazwischen.
Sie schloss die Augen und blieb minutenlang still liegen.
Gerade als Luce sich zu fragen begann, ob Dee eingeschlafen sei, sagte diese: »Es ist gut, dass ich vor zweitausend Jahren aufgehört habe zu wachsen.«
Dann ließ sie sich von Roland aufhelfen und klopfte sich ab.
»Es ist alles in Ordnung. Wenn der Mond etwa hier steht …« Sie deutete auf den östlichen Himmel, über die Stelle, wo die Felsen spitz zuliefen.
»Der Mond?« Cam warf Daniel einen Blick zu.
»Ja, der Mond. Er muss genau hier durchscheinen.« Dee tippte auf die Mitte des gläsernen Heiligenscheins, wo ein gezackter Riss deutlicher als noch Minuten zuvor zu sehen war. »So wie ich den Mond kenne, und das tue ich – nach all diesen Jahren entwickelt man eine intime Beziehung zu seinen Gefährten –, sollte er genau dort hinscheinen, wo wir ihn brauchen, sobald es heute Mitternacht schlägt. Wirklich passend, da Mitternacht meine liebste Tageszeit ist. Die Geisterstunde.«
»Was geschieht dann?«, fragte Luce. »Um Mitternacht, wenn der Mond dort ist, wo er sein muss?«
Dee legte Luce eine Hand an die Wange. »Alles, meine Liebe.«
»Und was machen wir in der Zwischenzeit?«, fragte Daniel.
Dee griff in die Tasche ihrer Strickjacke und förderte eine große goldene Taschenuhr zutage. »Einige Dinge bleiben noch zu tun.«
Sie folgten Dees Anweisungen bis ins kleinste Detail. Jedes der Objekte wurde abgewischt, poliert und von mehreren Händen abgestaubt. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, ehe Luce in der Lage war, sich vorzustellen, was Dee für die Zeremonie im Sinn hatte.
»Zwei weitere Laternen, bitte«, wies Dee sie an. »Dann haben wir drei, für jede Reliquie eine.« Es war seltsam, wie Dee von den Reliquien sprach, als gehöre sie nicht selbst dazu. Noch seltsamer war die Art, wie sie über das umschlossene Plateau wuselte, wie eine Gastgeberin, die eine Dinnerparty vorbereitete und dafür sorgte, dass alles perfekt war.
Das Quartett der Outcasts entzündete feierlich die Laternen, ihre geschorenen Köpfe umkreisten den Felsen wie Planeten. Das erste Licht beleuchtete den Qayom Malak.
Die zweite Laterne schien auf den silbernen Kelch, der immer noch dort stand, wo Dee ihn platziert hatte, auf dem goldenen Pfeil der Steinplatte, genau Dees Körpergröße – knappe ein Meter fünfzig – von dem Qayom Malak entfernt. Zuvor hatten die Engel links und rechts der Platte Steinquader wie Sitzbänke in einem Halbkreis aufgestellt, sodass es einer Bühne ähnelte. Der Raum sah dadurch noch mehr wie ein
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