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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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jeden Fall als die meisten anderen Engel in ihrer Bekanntschaft. Und richtig: Er fing ihren Blick auf, nickte kaum merklich und verschwand im Turm.
    »Untergräbst du wieder einmal meine Autorität bei einem meiner Männer, Elena?«, fragte Raphael in die Stille hinein.
    Sie trat neben ihn, bis ihre Flügel sich berührten. Eine Sekunde später taten sich über ihnen die Wolken auf und überschütteten die Stadt mit einem unerwartet heftigen Guss. Der Regen würde das Blut von Straßen und Häusern waschen, dachte Elena, das Trauma dieses Tages jedoch ließe sich wohl nie aus dem Gedächtnis tilgen. »Deine Autorität bei deinen Männern könnte nichts auf der Welt untergraben.« Die Sieben waren ihrem Erzengel so treu ergeben wie die Jäger ihrer Gilde.
    »Aber ich habe als deine Gemahlin gewisse Rechte«, fuhr sie fort, während sie sich Regentropfen von den Wimpern blinzelte und Raphaels Flügel ein schützendes Dach über ihren Köpfen bildete. »Und dazu gehört, dass ich an deiner Seite gegen diese Sache antrete. Was immer es auch sein mag.«
    Raphael legte den Arm um sie und zog sie an sich. Der Regen ließ die mitternachtsschwarzen Strähnen seines Haars womöglich noch dunkler schimmern.
    »Es tut mir so leid, Raphael.« Elena legte ihm die offene Hand auf das Herz, weil sie als Schutz vor dem Schrecklichen, das stattgefunden hatte, sein Leben spüren wollte. »Ich weiß, niemand darf einen Erzengel trauern sehen, aber ich weiß auch, dass du trotzdem um die Leute trauerst, die du verloren hast.« Ihr saß ja selbst ein dicker Kloß im Hals, und in den Augen brannten ihr ungeweinte Tränen.
    »Sie standen unter meinem Schutz«, meinte Raphael, und mehr brauchte auch gar nicht gesagt zu werden.
    Elena versuchte nicht, ihn mit Worten zu trösten. Sie stand einfach nur neben ihm, während der Regen auf sie beide herunterprasselte, kalt und hart wie der Tod, der an diesem Abend so düster über ihre Stadt gekommen war. In der Ferne zuckten Blitze, die finsteren Wolken sorgten schon jetzt am frühen Abend für ein Mitternachtsgefühl. Überall in den Fenstern der umliegenden Wolkenkratzer flammte warmes, goldenes Licht auf, als wollten sich die Menschen dort gegen die Dunkelheit wehren, wobei dieses wilde, schwarze Gewitter so gar nichts Unheimliches, »Anderes«, hatte. Es war lediglich eine einfache, schöne Zurschaustellung der Kräfte der Natur.
    »Bist du je bei solchem Wetter geflogen?«, wollte Elena wissen, die dicht an den Erzengel gelehnt dem Schauspiel zusah, durch seinen muskulösen Körper und die großen Flügel vor dem wütend tobenden Wind geschützt.
    »Ja.« Raphael betrachtete den Regenguss, der vom Wind so stark nach links gedrückt wurde, dass sich die Lichter der Stadt in dem Regenvorhang brachen. »Über einer Insel im Meer, das jetzt Pazifik genannt wird. Die Blitze tanzten einen irren, gewaltigen Tanz, die Luft zitterte vom Dröhnen des Donners. Meine Freunde und ich haben uns wie in einem Spiel einen Spaß daraus gemacht, den Blitzen auszuweichen.«
    Ein schönes Bild – fast hätte Elena lächeln wollen, aber die Wunden des Tages waren noch zu frisch. »Das nennen Unsterbliche dann wohl eine Mutprobe?«
    »Gut möglich.« Raphael blinzelte sich die Regentropfen von den Wimpern. »Komm, wir müssen nach den Verwundeten sehen.«
    Ihre Wohnung im Turm suchten die beiden nur kurz auf, um sich trockene Kleidung anzuziehen, ehe sie weiter in die neu eingerichtete Krankenabteilung eilten. Elena hatte bei der Erstversorgung der Verwundeten im Haus bereits gesehen, welch unglaublicher Schaden angerichtet worden war, was ihr jedoch jetzt wenig half: Der Anblick der Verletzten war diesmal nicht weniger verstörend als beim ersten Mal. Ein Engel, dessen Flügel wie die eines Spatzen gemustert waren, hatte einen Großteil seiner inneren Organe eingebüßt, und seine Brust bestand eigentlich nur noch aus einem klaffenden Loch, aber er war bereits vierhundert Jahre alt, hatte überlebt und war in ein künstliches Koma versetzt worden, das ihm bei der Heilung helfen würde.
    Neben ihm lag das fast enthauptete Opfer, dessen Lebenslicht nur noch leise flackerte. Raphael kniete sich neben den jungen Mann und legte ihm die Hand auf die furchtbare Wunde. Nur Elena stand dicht genug bei den beiden, um den schwachen blauen Schimmer wahrzunehmen, jenen, der für Raphaels wachsende, aber immer noch erst im Entstehen begriffene Fähigkeit, zu heilen. Noch vermochte er den Schaden nicht gänzlich zu beheben,

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