Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
Vom Netzwerk:
aber er konnte zumindest dafür sorgen, dass der Mann mehr als nur eine kleine Chance bekam.
    Zwei Betten weiter lag ein Engel, dem beide Beine an den Oberschenkeln abgerissen und die meisten Knochen gebrochen worden waren, einschließlich der Knochen seines Gesichtes, das jetzt grauenhaft entstellt war. Aber mitten in der zerborstenen Schale seiner Schädeldecke lag noch, mochte man es Glück nennen oder Schicksal, sein Gehirn, und auch das Herz schlug ihm in der Brust. Sein Rückgrat war geschädigt, aber nicht so, dass es tödlich gewesen wäre – denn sonst würde Izak jetzt nicht mehr am Leben sein, war er doch viel zu jung, um solche Verletzungen selbst heilen zu können.
    »Tut mir leid! Tut mir leid! Ich bin gerade erst aus der Zuflucht gekommen!« Er schluckte seine Tränen herunter.
»
Das dürfte ich Ihnen gar nicht sagen! Bitte, sagen Sie Raphael nichts davon.«
    In Elenas Kehle wuchs der Knoten aus Zorn und Angst, als sie an ihre erste Begegnung mit diesem jetzt so grausam zugerichteten jungen Engel denken musste. Izak hatte damals mit dem Kopf nach unten über dem Dach des kleinen Balkons ihrer alten Wohnung gebaumelt, nichts als gelbe Locken und riesige Augen, weil er so gern einmal einen Blick auf eine waschechte Jägerin hatte werfen wollen. So jung, so unschuldig – und jetzt lag er hier, zerschunden und still, sein Körper nur noch ein Klumpen aus zerfetztem, blutigem Fleisch …
    Elena wollte um sich schlagen, wollte jemanden für dieses grauenhafte Blutbad zahlen lassen. Aber noch war der Gegner unsichtbar, noch fehlte jede Antwort auf die Frage nach dem Ursprung dieses Albtraums.

3
    Raphael und seine Gemahlin gingen erst weit nach Mitternacht zu Bett. Der Erzengel brauchte wesentlich weniger Erholung als Elena, aber sie schlief besser, wenn er bei ihr lag. Wenn sie aufwachte und ihn nicht neben sich fand – und sie wachte fast immer mitten in der Nacht auf, wenn er nicht da war, machte sie sich auf die Suche nach ihm.
    Als das zum ersten Mal geschah, hatte er angenommen, ein Albtraum habe sie aus dem Schlaf gerissen, ein Echo des Schrecklichen, das damals ihre Kindheit beendet hatte. Aber Elena hatte ihm versichert, sie würde ihn einfach nur vermissen. So schlichte Worte – und doch hatten sie solche Macht über ihn. Jetzt schlief er bei ihr, zumindest während bestimmter, kritischer Stunden der Nacht.
    An Schlafen war in dieser Nacht jedoch erst einmal gar nicht zu denken. Elena lag im Bett, den Kopf an Raphaels Schulter gebettet und dachte nach. »Lijuan!«, sagte sie schließlich. »Meinst du nicht auch?«
    »Ja, die Möglichkeit ging mir auch schon durch den Kopf.« Der weibliche Erzengel von China wurde mehr und mehr zum Erzengel des Todes, ihre Fähigkeiten wurden durch den Fäulnisprozess eines würdelosen und gnadenlos besiegelten Endes beeinträchtigt – ob sie sich nun selbst als Spenderin ewigen Lebens sah oder nicht.
    Die Version von »Leben«, die Lijuan schuf, war die grauenhafte empfindungslose Hülle eines entmenschlichten Körpers.
    »Aber?« Elena stützte sich auf den Ellbogen, um auf Raphael hinuntersehen zu können. Ihre fast weißen Haare berührten seine Haut wie tausend flüchtige Liebkosungen.
    Er legte ihr die Hand auf den warmen Rücken, zog sanft mit den Fingern die zarte Kurve ihrer Wirbelsäule nach. Seine zähe Jägerin – die man immer noch auf vielfältige Art verletzen konnte, die heute durchaus zu den Gefallenen hätte zählen können, denn es waren immer die Jüngsten, die am stärksten in Gefahr schwebten, und Elena war der allerjüngste Engel in der Stadt.
    Hastig schüttelte Raphael jeden Gedanken an Elenas Jugend und Verletzlichkeit ab, ehe der sich allzu sehr festsetzen und womöglich noch Schaden anrichten konnte. »Jason hat vor einer Stunde Kontakt aufgenommen und Bericht erstattet.« Sein Meisterspion hielt sich zurzeit auf der anderen Seite der Welt auf, war aber nach Erhalt der Nachricht von den tödlichen Vorkommnissen in New York umgehend aktiv geworden. »Er hat wie immer Mittel und Wege gefunden, sich Informationen zu verschaffen, die uns anderen nicht zur Verfügung stehen.«
    Im dunklen Schlafzimmer war der feine, leuchtende Silberrand um Elenas Iris gut zu erkennen. Er war ein stiller Indikator für ihr Hineinwachsen in die Unsterblichkeit, wobei diese Unsterblichkeit momentan noch keineswegs unumstößlich feststand. »Was hat er gesagt?«, wollte sie wissen.
    »Lijuan hat sich während der gesamten Dauer des Sturzes auf ihrem Gebiet

Weitere Kostenlose Bücher