Engelslied
sie zu beschützen.
»Fünf haben heute Abend ihre Reise nach Hause angetreten.« Raphael hatte mit Elena an seiner einen und Nimra an seiner anderen Seite das Ehrengeleit bis weit über das Meer hinaus angeführt, bis Manhattan nur noch als Silhouette am Horizont zu erkennen gewesen war. Außer einer für die Sicherheit des Turms erforderlichen Kernstaffel hatten auch alle anderen flugfähigen Engel der Stadt an der schweigenden Prozession teilgenommen, jeder mit einer Laterne in der Hand, in der eine brennende Kerze den Toten den Weg nach Hause leuchten sollte.
Draußen über dem Meer hatten sie in der Luft schwebend schweigend verharrt, während Nimra mit der ihr von Raphael überantworteten Schwadron weiter in die sternenlose Nacht geflogen war, in ihrer Mitte die mit Blumen geschmückten Bahren, auf denen die Gefallenen lagen. Vierundzwanzig Stunden Flug, dann würde der Leichenzug sein Ziel erreicht haben. Natürlich hätte man die Toten mit einem Jet schneller heimschicken können, aber sie waren Geschöpfe des Windes und des Himmels gewesen, weshalb der Himmel ihre Straße sein sollte, auf der sie nach Hause zurückkehrten.
»Wir trauern mit euch.« Über Calianes Wange rollte eine einzelne Träne. »Ich werde eine Schwadron in die Zuflucht schicken, als Ehrenwache für die, die nach Hause gebracht werden.«
»Ich danke dir, Mutter, aber in diesen Zeiten der Unruhe solltest du deine Leute lieber in deiner Nähe behalten.« Caliane war und blieb Lijuans gefährlichste Feindin und da sie damals nur die Leute aus Amanat mit in den Schlaf genommen hatte, verfügte sie aktuell lediglich über zwei geflügelte Schwadronen.
Die Trauer in Calianes Gesicht machte einem Ausdruck Platz, der scharfe, wache Intelligenz verriet. Raphaels Mutter lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, wobei ihr in lebhaften Türkisschattierungen erstrahlendes Gewand ihre blendende Schönheit untermalte, der man ihr außergewöhnliches Alter in keiner Weise ansah.
»Ich weiß, was du wissen möchtest«, sagte sie. »Ich weiß, du möchtest mich fragen, ob mir das, was heute bei euch geschehen ist, bekannt vorkommt, ob ich Ähnliches während der letzten Kaskade erlebt habe. Nein, habe ich nicht. Zu meiner Zeit hat es einen solchen Sturz nicht gegeben.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht – wahrscheinlich dachte sie an den Wahnsinn, der sie ihrer Meinung nach während jener Kaskade befallen hatte. »Es gab jedoch andere seltsame Vorkommnisse.«
Raphael wartete geduldig, während seine Mutter nachdachte. Er wusste, ihr Zögern war kein Machtspielchen, kein arrogantes Posieren. Caliane war schlichtweg sehr, sehr alt und viele ihrer Erinnerungen lagen verborgen in längst vergessenen Winkeln ihres Geistes.
»Einmal …«, flüsterte sie nach langem Schweigen, »… einmal haben sich die Engel einer ganzen Stadt eine volle Minute lang gegeneinander gewandt. Es gab Faustkämpfe, Messer wurden gezückt – dann schienen alle wieder zu erwachen, und keiner wusste, warum er sich so verhalten hatte.« Sie runzelte die Stirn. »Einige gingen damals davon aus, der Einsatz einer neuen Erzengelkraft hätte das Chaos verursacht, aber der Vorfall hat sich nie wiederholt.«
Wie schön wäre es jetzt, zu glauben, der Sturz könnte von einer ähnlichen Fehlentwicklung verursacht und damit ein einmaliger Vorfall gewesen sein, aber solchen Versuchungen durfte sich Raphael nicht hingeben. »Wenn ich mir die Veränderungen so ansehe, die momentan im Kader vor sich gehen, dann kann ich mich mit einer solch einfachen Erklärung leider nicht zufriedengeben.«
»Du sprichst von der, die den Tod austeilt.« Calianes Flügel leuchteten plötzlich hell und tödlich. »Sie, die sich selbst als Uralte bezeichnet – du glaubst, sie hatte ihre Hand im Spiel?«
»Eigentlich sieht es nicht nach Lijuans Handschrift aus.« In Raphaels Kopf flackerte ungewollt ein Bild auf: Die Flügel seiner Mutter hatten schon einmal so geglüht. Während einer Exekution, die sie den Verstand gekostet und ihre Familie gespaltet hatte. Der Gedanke an den gewaltsamen Tod seines Vaters ließ ihn die Augen schließen. »Aber wir haben auch gerade erst mit der Suche nach Antworten auf unsere Fragen begonnen.«
»Du wirst sicher nicht zulassen, dass die Ereignisse dich von meinen Ländern fernhalten.« Das war keine Frage, sondern ein Befehl.
»Die Entscheidung wird fallen, wenn es Zeit dafür ist.« Auch Raphael konnte unbeugsam sein. Seine Mutter vergaß leicht einmal, dass er
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